Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
fassen. Ich schluckte die Alkas und die Aspirins, fuhr mir mit dem Waschlappen übers Gesicht, putzte meine Zähne mehrmals und verließ die Wohnung. Es war dunkel und kalt, ein Dienstagabend im Winter eben, voll mit den üblichen Idioten, die der Beschaffung von Weihnachtsgeschenken einem Stresstest unterzogen und gedankenverloren auf der Suche nach Sonderangeboten waren, die sie zu nichtweihnachtlichen Zeiten nicht einmal mit dem Arsch angeschaut hätten.
Die „Bauernschenke“ war geschlossen, obwohl sie das laut Aushang nicht hätte sein dürfen. Dafür hing ein hastig mit Kugelschreiber verfasster Schrieb in an der Türscheibe, „wegen Trauerfall heute zu“. Ich dachte „so, so“ und wandte mich zum Gehen. „Tja“, sagte eine Stimme neben mir, „das hat die Mädels schwer getroffen. Der gute, arme Lothar.“
Ich drehte mich um und schaute auf einen zerrupften Kaninchenpelz.
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„Ich sehe alles“, kicherte die Alte – hieß sie nicht Irmi? – und schlenkerte ihr Einkaufsnetz jungmädchenhaft durch die Kälte. Wann hatte ich zuletzt eine ältere Dame, überhaupt einen Menschen mit Einkaufsnetz gesehen? Es musste mehrere Ewigkeiten her sein und berührte mich sehr.
Irmi fischte ein Päckchen Zigaretten aus den Tiefen des ehemaligen Kaninchens und hielt es mir hin. „Sie rauchen doch auch, ja? Sie waren am Samstag im Lokal und haben fünf oder sechs Glühwein getrunken und immer zu dem erleuchteten Fenster da drüben gestarrt.“ Ich fühlte mich ertappt. Irmi sah wirklich alles, selbst wenn sie die Augen geschlossen und eine geschätzte halbe Hundertschaft Eierlikör intus hatte.
Wir rauchten. Aus dem Pelz roch eingetrockneter Eierlikör, gar nicht mal so schlecht, wie ich feststellte, besser jedenfalls als Erbrochenes. Irmi paffte wie ein Bierkutscher, hustete zwischendurch und gönnte dem Margarinewürfel und der Großpackung Papiertaschentücher in ihrem Einkaufsnetz eine Runde Kettenkarussell. „Sie müssen nämlich wissen“, ließ sie mich wissen, „dass ich das Beobachten damals im Audimax der Freien Universität Berlin gelernt habe, das muss 67 gewesen sein, noch vor dem Schahbesuch, und es war immer Tumult, wenn Rudi redete. Sie kennen Rudi?“
Ich kannte Rudi. „Tja“, machte Irmi und zog eine melancholische Schnute, „das war noch einer. Aber das Frauenbild von denen, oh je, oh je. Ich war ja mit meinem Studium fast fertig, Anglistik, Germanistik und Soziologie, aber ich wusste: Irmi, da draußen läuft ein Typ rum, du kennst ihn noch nicht, er kennt dich noch nicht, aber ihr werdet euch kennenlernen und dann wird er dir zuerst den Kommunismus erklären und später einen dicken Bauch machen und du wirst bügeln und einkaufen, kochen und waschen, wickeln und erziehen, während ER durch die Institutionen marschiert und Professor wird oder Staatssekretär, irgend so ein bürgerliches Schwein halt, und für dich war das Studium nichts weiter als Privatvergnügen, es sei denn, er lässt dich sitzen oder du ihn und dann gehst eh putzen.“
„Und“, fragte ich, „sind sie einander begegnet?“ Irmi lächelte mich an. „Schön, dass sie ‚einander’ gesagt haben, das erinnert mich an mein Hauptseminar Rainer Maria Rilke. Nein! Das heißt: ja! Ich bin Hunderten von denen begegnet, aber keiner hat mich rumgekriegt. Na ja, rumgekriegt vielleicht, Sie wissen schon. Mein Bauch ist flach geblieben. Trotz Landkommune und Baghwan und selbstverwaltetem Buchladen und makrobiotischer Ernährung. Ich bin halt Lehrerin geworden und bereue das nicht. Die Rente kann sich jedenfalls sehen lassen.“
Irmi war meine erste Achtundsechzigern, die Chargen aus den Talkshows nicht gerechnet. Die Welt wimmelte von Altlinken und alle waren sie irgendwie wichtig gewesen, hatten einen gewissen Marcuse gelesen und echauffierten sich, wenn man sich versprach und „Mabuse“ sagte, die altlinken Mädels hatten sämtlich mit Jimi Hendrix geschlafen, die altlinken Jungs waren mit den Titten von Uschi Obermaier per Du gewesen, und keiner besaß ein Haus in der Toskana. Die waren alle längst auf die Kinder überschrieben. So gesehen war meine erste Achtundsechzigerin eine angenehme Überraschung. Wir traten von einem Fuß auf den anderen, Irmi spendierte abermals eine Zigarette, das Einkaufsnetz pendelte weiter über dem karstigen Schnee und ich wartete auf den Rest der Lebensgeschichte dieser alten Frau.
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„Warum ich jetzt bei diesem Thema bin – ich meine, dass wir Frauen immer die
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