Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
entpackt es, nischt wie Schmuck übrigens, auch nicht gerade phantasievoll, die Beschenkten reihern Vornamen, die zu den Vornamen Gehörigen sagen „Gewonnen!“ oder „Verloren!“. Eine Dreiviertelstunde lang, meine Beine schieben sich in den Bauch, ich fotografiere nicht mehr.
Herr Rührlein stößt mir sachte in die Seite. „Wir sollten zurückgehen, die kommen auch gleich alle.“ Ja, sollten wir. Ein Geräusch hinter uns, ich drehe mich um und sehe, wie sieben oder acht Kinder eine schwere Lore durch den Gang drücken, es ächzt, das Ding ist garantiert gusseisern und fährt nicht auf Schienen, die hat man wohl schon vor Jahrzehnten rausgerissen. Über die Lore ist ein dunkelblaues Tuch mit goldenen Sternen drauf ausgebreitet worden, so fährt es an mir vorbei und der Alte vorne sagt „Aha! Da kommt ja der Geschenkewagen! Hierher, ihr Mistviecher und ein bisschen schneller, sonst gibt’s nachher nur Wassersuppe!“
Als die Lore endlich an ihrem Platz steht, greift der Alte einen Zipfel des Tuches und reißt es mit einem Schwung weg. Nee, das will ich mir nicht antun. Ich stoße meinerseits sachte in die Seite vom Herrn Rührlein, der aber reagiert nicht, sondern schreit auf einmal „OHA!“ – und jetzt sehe ich es auch. Aus der Lore ragt ein Kopf, nein, kein Kopf, nur eine blauweiße Mütze und „Schalke 04“ steht drauf, und bevor ich überlegen kann, was Schalke mit Weihnachten zu tun hat, wird aus der Mütze ein Kopf und aus dem Kopf ein Körper und der Körper hüpft aus dem Wagen und der Körper trägt nur eine Unterhose und ein zweiter Körper taucht auf und hüpft dem ersten hinterher, und der trägt auch nur eine Unterhose, und als ich den sehe, denke ich spontan: Mein Gott, Moritz, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst dir endlich mal ein halbes Dutzend moderne Unterhosen anschaffen. Aber auf mich hört er ja nie und jetzt sieht ihn die ganze Hautevolee hier in Feinripp mit Eingriff.
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Hei!, wie der Typ mit der Schalkemütze Haken schlägt, als wäre er ein aufgescheuchtes Wildkaninchen, das bei einem Skislalom-Weltcuprennen unterwegs ist! Und mein Moritz? Naja, der denkt notorisch zu viel und bei allem, wenn er mal gerade nicht denkt, denkt er drüber nach, warum er nicht denkt, und jetzt wohl auch, er rennt nicht, er zögert, er schaut sich um, er sieht mich, er ruft „Hermine!“ und ich rufe „Moritz!“, alles Blödsinn, wir wissen doch, wie wir heißen, oder?
Aber dann rennt er doch los, mein Moritz. „Haltet ihn!“ schreit der Herr Rührlein neben mir und trifft Anstalten, meinem Schatz hinterlistig ein Bein zu stellen. Tja, mein Bester, das ist halt der Moment, wo du die Hermine mal richtig kennenlernst, von wegen doofes Frischfleisch im Lustdirndl, kann man nach getaner Arbeit mal flachlegen, und apropos flachlegen: Du bist gar nicht mal so uneben, aber ich hasse Schleimer und deshalb kriegst du meinen Ellenbogen ans Kinn und sofort machst du das, was gerade sämtliche arabischen Despoten machen, du fliegst mit Karacho auf die Fresse und der Weg ist frei für meinen Moritz, der meine Hand greift und mich mit sich reißt. Rennen wir halt zusammen in den Stollen hinein.
„Rechts!“ kommandiere ich. Wir keuchen. Ist jemand hinter uns? Wir hören aufgeregte Stimmen, wir hören auch Schritte, ich drehe mich kurz um, sehe aber keinen, der uns verfolgt. Wenn wir den Ausgang erreichen, sind wir gerettet.
Ach, Hermine. Gerettet? Wenn wir den Ausgang erreichen, stehen da zwei Typen in Unterhosen und eine Frau in notdürftig als Oberbekleidung deklarierter Reizwäsche in der Saukälte, am Rand von Großmuschelbach, dem Dorf der Verdammten, und jetzt sag mir noch einmal, was daran „gerettet“ ist. Wenn wir wenigstens ein Auto organisieren könnten, rein und weg.
Wir erreichen den Ausgang und da steht tatsächlich ein Auto, es ist der Transporter von Monika. Und wer sitzt drin? Das Männlein mit der Schalkemütze. Es irritiert ihn sichtlich, mich an der Hand von meinem Moritz zu sehen, aber nur kurz. Die Beifahrertür steht offen, der Motor brummt und das Männlein ruft: „Hier herein! Und die Dame bitte zuerst, soll sich ja lohnen für mich.“
Rein und losfahren. Keine Sekunde zu früh, denn wie ich mich noch einmal umdrehe, sehe ich den Alten mit dem Zylinder durch den Eingang keuchen, einen furchtbar großen Stecken in der Hand, und ihm auf dem Fuß folgt, wie man so sagt, das Dienerchen Rührlein, dem Blut vom Kinn tropft – jedenfalls bilde ich mir das
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