Die Ehre der Am'churi (German Edition)
höhnischer Ausdruck in seine Mundwinkel grub.
„Ich verstehe“, sagte er. „Jetzt verstehe ich alles. Ah, es ist ein Genuss zu sehen, wie verschlungen die Wege der Unsterblichen sind … Nun, trag ihn nach Hause, deinen Feind. Was auch immer dich mit ihm verbindet, du wirst es nicht mehr auskosten können. Auf bald, wir werden uns wiedersehen.“
Ni’yo brauchte all seine Kraft, um nicht sein Schwert in die Kehle dieser Kreatur zu rammen. Voller Hass starrte er ihm hinterher, bis er tatsächlich fort war. Dann erst blickte er auf Jivvin herab.
Sein Feind war an Händen und Füßen gefesselt, zahllose Schnittwunden bildeten Muster auf seinem entblößten Leib. Keine einzige dieser Verletzungen war bedrohlich, es waren mehr die Muster selbst, die Ni’yo sorgenvoll zusammenzucken ließen: allesamt Zeichen der Kalesh, geschaffen, um Energieflüsse zu unterbrechen und Macht zu bannen.
Schnell schnitt er Jivvin los, durchwühlte das Lager der Elfen, bis er passende Kleidungsstücke fand. Dabei fiel ihm auch das Schwert seines Feindes in die Hände.
„Gut so“, murmelte er. So rasch er konnte, zog er den Bewusstlosen an, hüllte ihn zusätzlich in eine Decke, legte ihm das Schwert in die Arme und hob ihn dann hoch, als wäre er ein schlafendes Kind. Er musste Jivvin von diesem Ort fortschaffen, zu viel rituelle Macht war hier entfesselt worden. Außerdem würden die Kalesh sicher bald zurückkehren, um ihre Ausrüstung zu bergen. Ob Jivvin wirklich gebrochen war? Getrennt von Am’chur?
„Wenn das geschehen ist, werde ich dich von deinem Leid erlösen“, schwor Ni’yo leise, und schritt mit seiner Last in den Schutz des Waldes zurück.
Als er das Gefühl hatte, weit genug von dem Lager entfernt zu sein, hielt Ni’yo an und legte Jivvin zu Boden. Dabei achtete er darauf, dass das Schwert nicht herunterfallen konnte. Es war eine starke Verbindung zu Am’chur, die machtvollste, die Ni’yo hier in der Wildnis zur Hand hatte. Wenn er damit Jivvin nicht zurück in diese Welt rufen konnte, musste er so rasch wie möglich in den Tempel zurückkehren. Im Augenblick aber brauchte er selbst eine kurze Rast. Drei Tage und Nächte war er ohne Schlaf gewandert, hatte Spuren verfolgt, die in die Irre führten. Immer wieder von vorne begonnen, bis er schließlich einen Weg genommen hatte, der richtig erschien. Ob Am’chur selbst ihm diesen Gedanken eingeflüstert hatte?
Wahrscheinlich nicht. Schon, weil der Drachengott nicht zum Flüstern neigte.
Mühsam riss sich Ni’yo zusammen, er musste sich jetzt sammeln. Wahrscheinlicher war, dass die Kalesh ihm gestattet hatten, sie zu finden, um auch ihn gefangen zu nehmen.
„Am’chur, sende mir ein Zeichen“, betete er halblaut. „Ist dieser Krieger, den du einst erwähltest, noch ein Am’churi? Oder konnten die Schattenelfen tatsächlich deine Bindung zu ihm zerbrechen?“
„ER IST NOCH IMMER MEIN, NI’YO. ABER DAS FEUER BRENNT NUR SCHWACH IN IHM. WILLST DU IHN RETTEN, ODER STERBEN LASSEN? BEIDES IST MÖGLICH.“
Dann soll er leben, dachte Ni’yo, wissend, dass sein Gott ihn verstand. Sollte Jivvin auf irgendeine Weise fähig sein wahrzunehmen, was um ihn herum geschah, sollte er dieses Gespräch nicht mit anhörte.
„UM IHN ZU RETTEN, MUSST DU SELBST KRAFT FÜR IHN OPFERN. ER IST DEIN ERBITTERTSTER FEIND, NI’YO. SAG MIR, WARUM DU IHN LEBEN SEHEN WILLST, UND SAG DIE WAHRHEIT.“
Aus dem gleichen Grund, warum ich ihn niemals nach einem Ehrenduell töte. Ein Leben ohne ihn wäre noch einsamer, als es jetzt schon ist. Ich hasse ihn, und ein Teil von mir wünscht, ihn umzubringen und niemals mehr unter ihm und seiner Verachtung, seinem Spott und den Schmerzen, die sein bloßer Anblick mir bringt, leiden zu müssen. Ein anderer Teil von mir will lieber leiden, gehasst und verachtet und gedemütigt werden, als völlig allein sein zu müssen.
„DIE GROSSMEISTER SPRECHEN ZU DIR, DU BIST NICHT ALLEIN.“
Ja, wenn es sich nicht vermeiden lässt, reden sie mit mir. Sie geben mir Aufgaben, schicken mich, um ihnen zu dienen. Aber sie tun es ungern, Am’chur. Leruam ist der einzige, der mich in seiner Nähe ertragen kann. Er bedauert mich, versucht, das vor mir zu verbergen. Sein Mitleid demütigt mich mehr als jeglicher Hass, er weiß es selbst. Darum hält auch er sich fern von mir. Am’chur, ich will Jivvin nicht verlieren, er ist mir als lebendiger Feind wertvoller als jeder Triumph, ihn endgültig besiegt zu haben. Sag mir, was ich geben muss, es sei
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