Die Ehre der Am'churi (German Edition)
Haut zu schneiden. Ganz langsam.
Noch immer hing sein Hemd nass und schwer um sein Handgelenk, von der Fessel gehalten. Mit einer raschen Bewegung durchtrennte Jivvin den Stoff, und es fiel klatschend zu Boden.
Die Klinge ruhte auf seinem Unterarm. Schwarze Schlieren tanzten vor seinen Augen, er bebte unwillentlich. Würde seine Hand als nächstes fallen? Genauso achtlos wie das Hemd? Das Elfenmesser war sicher nicht scharf genug, um mit einem Schnitt durch die Knochen zu gehen – Jivvin würde hacken müssen …
Tu es einfach … dann bist du mich los. Sinnlos, dass zwei Mann sterben …
Immerhin hatte er durch seine Gedankenlosigkeit eine deutliche Spur gelegt, sie beide dadurch in höchste Gefahr gebracht. Ob Jivvin ihm die Gnade erweisen würde, ihn anschließend zu töten, war die Fessel erst einmal fort? Oder würde er ihn hier liegen lassen, um langsam zu verbluten?
Ni‘yo schrie unterdrückt auf, als sich ihm eine Hand schwer auf die Schulter legte und ihn zurückzog, bis sein Kopf gegen Jivvins Brust ruhte.
„Fürchtest du dich?“, höhnte der Am’churi leise.
Schwer atmend versuchte Ni’yo, sich frei zu kämpfen, doch Jivvin stieß ihn brutal zu Boden, auf die Knie, verdrehte ihm den rechten Arm dabei so, dass er bewegungsunfähig nach vorne gepresst wurde. Die kleinste Zuckung würde ihm die Schulter auskugeln, dazu seine Rückenwunden noch weiter verschlimmern. Ni’yo ließ sich stöhnend hängen, kaum noch bei Bewusstsein. Jivvin hielt ihn an der Kette aufrecht, in dieser Haltung würde es ihm leicht fallen, die Hand abzuschlagen.
„Fürchtest du dich?“, drang die verhasste Stimme aus unendlicher Ferne zu ihm.
„Ja …“
„Das ist gut.“
Der qualvolle Druck ließ nach, als Jivvin um ihn herum schritt, sich vor ihm niederkniete.
„Sieh mich an!“, befahl er.
„Danke“, flüsterte Ni’yo und drehte mühsam den Kopf. Jivvin starrte ihn verständnislos an, schnaubte dann nur und hob die Klinge.
„So lange du dich fürchtest, steckt noch Leben in dir. Wenn du aufhörst zu kämpfen, Ni’yo, dann töte ich dich, sei gewiss. Wenn du mit deiner Schwäche eine zu große Last für mich wirst, dann zögere ich kein zweites Mal. Aber im Moment wirst du nicht sterben.“
Er steckte das Messer zurück und wandte sich dann ab.
„Warum?“, wisperte Ni’yo fassungslos.
„Ich will dich besiegen. Das wollte ich schon immer. Und ja, ich will dich töten. Aber erst, nachdem ich dich niedergerungen habe. Dass du im Moment wehrlos bist, dazu habe ich nichts beigetragen, verstehst du? Eines Tages werde ich dich im Duell bezwingen und dann bringe ich dich um. Diese Chance will ich nicht leichtfertig aufgeben, es sei denn, es bleibt mir keine andere Wahl.“ Sein Blick verdüsterte sich.
„Jetzt sammle dich, wir müssen noch weiter gehen.“
Einige Minuten lang konnte Ni’yo nichts weiter tun, als um Luft zu ringen. Er war so sicher gewesen zu sterben!
„Jivvin“, keuchte er, als er glaubte, seine Stimme im Griff zu haben. „Jivvin, ich will, dass du mir etwas versprichst.“
„Kommt drauf an“, knurrte der ältere Krieger.
„Wenn ich … wenn du glaubst …“ Er musste sich hastig abfangen, sonst wäre er umgefallen. Er spürte den ungeduldigen Blick seines Feindes und riss sich zusammen. „Wenn du mich töten willst, egal aus welchem Grund, und ich sollte dann bei klarem Verstand sein, dann versprich mir, dass du es nicht hinterrücks oder im Schlaf tust. Lass mich dir dabei ins Gesicht blicken.“
Jivvin schwieg lange, wandte ihm den Rücken zu. Schließlich aber sah er über die Schulter und nickte knapp.
Mühsam kämpfte Ni’yo sich auf die Beine.
„Lass uns weitergehen“, murmelte er.
„Dein Hemd nehme ich“, bot Jivvin an und streifte sich das durchnässte Stoffstück über den Kopf. Es war nicht vollständig zerstört, obwohl er sich bestimmt keine Mühe gegeben hatte, das zu verhindern. „Es ist warm genug, ich trockne es für dich. Wenn du es anziehst, quillt dir das Wasser nur die Wunden auf.“
Ni’yo zuckte nur die Schultern, es war ihm gleichgültig. Irgendwann später einmal konnte er entscheiden, ob das gerade als Demütigung oder als Akt der Freundlichkeit gemeint gewesen war.
Eine Weile schritten sie so durch den Wald, immer nach Osten, auf Vaio zu. Sie kannten sich beide in diesem Landstrich ganz gut aus, wussten, wo sie in dichten Wäldern untertauchen konnten, welche Dörfer sich in der Nähe befanden. Es würde mindestens drei Tage
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