Die Ehre der Am'churi (German Edition)
mithilfe eines Pyrits, den er unterwegs gefunden hatte, und seinem Messer. Dann begann er, lose Felsbrocken aufzuschichten, die in und um den Höhleneingang herum lagen. Ni’yos gefesselter Arm wurde rücksichtslos verdreht, hin- und hergezerrt. Er ließ es leise stöhnend geschehen, sah zu, offensichtlich ohne zu begreifen, was Jivvin vorhatte.
„Ich schließe uns ein“, erklärte Jivvin schließlich, als er den kleinen Eingang völlig versiegelt hatte. „Wenn ein Raubtier oder ein zweibeiniger Feind zu uns gelangen will, während wir schlafen, muss er erst den Steinwall niederreißen, und wenn wir das nicht mehr hören, sind wir sowieso schon tot.“ Er prüfte zufrieden sein Werk – es war nicht lückenlos, aber es würde reichen, um jede größere Gefahr fernzuhalten. Giftige Schlangen gab es hier nicht, gefährliche Insekten oder Skorpione auch nicht, somit waren sie bestmöglich gesichert. Mit einem leichten Anflug von schlechtem Gewissen betrachtete er das Blut, das über Ni’yos rechte Hand strömte. Er hatte nichts, um die Wunden zu verbinden, die er mit seinen mitleidlosen Bewegungen gerissen hatte, selbst, wenn er an das gefesselte Handgelenk herangekommen wäre. Schulterzuckend stieß er den erbärmlich zitternden Mann nieder, achtete aber darauf, dass er auf der Seite landete statt auf dem verletzten Rücken, und dicht genug am Feuer lag.
„Schlaf jetzt“, knurrte Jivvin, bevor er sich der Zubereitung der Kaninchen widmete. Mit müden Bewegungen spitzte er Holzstöcke an, spießte das magere Fleisch auf und hielt es in die Flammen. Er war selbst viel zu erschöpft, um noch hungrig zu sein, aber wenn er später erwachte, würde das sicherlich anders aussehen. Seine Gedanken kreisten ruhelos. Was mochte Am’chur getan haben, um sich den ewigen Hass der Elfen zuzuziehen? Warum hatte man sie hierher verschleppt? Und warum hatten ihre Verfolger sie nicht bereits aufgespürt? So versunken war er in diese sinnlosen, nicht zu beantwortenden Fragen, dass er lange Zeit weder hörte noch spürte, wie Ni’yo hinter ihm kämpfte. Als das leise Klirren der Kette in sein Bewusstsein drang, drehte er sich ungläubig um. Ni’yo starrte in die Leere, die Augen weit aufgerissen. Sein Gesicht war so stark vor Schmerz verzerrt, dass Jivvin widerwillig Mitleid empfand.
„Warum bist du noch wach?“, fragte er leise. Sehr langsam richteten sich die dunklen Augen auf ihn, aber ob Ni’yo ihn wirklich wahrnahm, konnte er nicht sicher sagen. Eine Antwort erhielt er nicht, aber das war auch nicht notwendig. Er wusste, was Ni‘yo fürchtete.
„Du musst schlafen, sonst erlebst du nicht einmal mehr den Sonnenuntergang.“
„Würdest du es können? Letzte Nacht hast du ebenso wach gelegen wie ich.“ Die Worte waren so leise gehaucht, dass Jivvin sie ihm fast von den Lippen lesen musste.
„Ich weiß. Vor dir habe ich heute nichts mehr zu befürchten, du könntest nicht einmal mehr eine Motte erschlagen. Wenn du aber wieder auf den Beinen bist, was dann? So bringst du dich allerdings selbst um, Kleiner. Wir müssen uns etwas ausdenken.“
„Waffenstillstand“, wisperte Ni’yo gequält. Jivvin atmete erleichtert auf, nickte hastig – endlich! Nur der Ranghöhere Am’churi konnte dieses Angebot aussprechen.
„Waffenstillstand. Ich schwöre …“, wimmerte Ni’yo. Dann brach seine Stimme. Ein Krampf erfasste seinen ganzen Leib, schüttelte ihn so sehr durch, dass er nicht einmal mehr atmen konnte. Besorgt zog Jivvin ihn zu sich, verhinderte so, dass Ni’yo sich selbst den Schädel am harten Felsboden einschlug.
„Ich schwöre, dass ich dich nicht angreifen werde. Ich werde nichts tun, was dich verletzt oder in Gefahr bringt, es sei denn, um mein eigenes Leben zu retten. Ich schwöre, dass du in meiner Nähe so sicher bist, als wärest du mein Bruder“, flüsterte er die rituellen Worte in das Ohr seines Feindes, als der Krampf endete. Ni’yo hing schlaff in seinen Armen, das Gesicht von Tränen überströmt. Sein Atem ging flach, stoßweise, kalter Schweiß bedeckte den Körper. Gerade, als Jivvin sicher war, dass der junge Krieger nicht mehr erwachen würde, vielleicht niemals mehr, blinzelte Ni’yo und regte sich schwach.
„Ich schwöre“, hauchte er lautlos und besiegelte damit das Abkommen.
„Schlaf jetzt, verdammt, du hast nichts zu befürchten.“
Als wären diese Worte ein Zauberspruch, schloss Ni’yo gehorsam die Augen und fiel fast augenblicklich in tiefen Schlaf.
Vorsichtig bettete
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