Die Ehre der Am'churi (German Edition)
bemerkt? Er beobachtete Ni’yo doch schon seit Jahren, kämpfte fast täglich gegen ihn!
Aber seit Monaten will er nur noch mit den Stöcken kämpfen statt waffenlos zu ringen …
Behutsam wusch Jivvin über Ni’yos Rücken. Feind oder nicht, im Augenblick war dies die bemitleidenswerteste Kreatur unter der Sonne.
Das kalte Wasser schien zu helfen, die Schwellungen ließen etwas nach. Zumindest bildete er sich das ein. Vorsichtig drehte er Ni’yo um. Für gewöhnlich hasste er es, in dieses bleiche, abstoßende Rattengesicht zu blicken, deshalb konzentrierte er sich absichtlich auf den schmalen Oberkörper, wusch Erbrochenes und kalten Schweiß fort, versuchte, alle Einstichstellen zu finden, bis nur noch Hals und Gesicht fehlten. Dann holte er frisches Wasser, ließ sich viel Zeit dabei. Erst, als es nicht mehr anders ging, überwand er sich, Ni’yo anzusehen.
Dunkle Augen fixierten ihn, von unsagbarer Qual erfüllt. Jivvin zuckte zusammen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Ni’yo wach werden könnte. Besser wäre es gewesen, diese Ratte hätte nie davon erfahren, wer ihm beigestanden hatte! – Aber nun war es nicht mehr zu ändern. Innerlich seufzend tauchte er das Tuch ins Wasser und starrte dann in das schmale, in Schmerz erstarrte Gesicht. Es kostete ihn viel Überwindung, Ni’yo überhaupt zu berühren, jetzt wo er wusste, dass sein Feind ihn wahrnahm. Doch er stellte sich verbissen dieser Herausforderung, wusch über Ni’yos Stirn und Wangen. Seltsam, er wirkte gar nicht abstoßend. Nur jung, viel zu jung für so viel Leid.
„Kannst du mich hören?“, sprach er leise. Ni’yo senkte die Augenlider, rührte sich ansonsten nicht.
„Bist du gelähmt?“
Wieder ein Senken der Lider. Wenn er diese Kontrolle bereits wieder besaß, müsste das Gift bald aufhören zu wirken. Jivvin beschloss, einfach weiterzumachen. Er kühlte die zerstochene Haut des Jungen, hielt dabei dessen Blick stand. Nach einer Weile begannen Ni’yos Wangenmuskeln und Lippen zu zittern, die Qual in den weit aufgerissenen Augen vervielfachte sich.
„Es tut weh“, presste Ni’yo kaum hörbar hervor.
Zaghaft, mit dem Gefühl, einen Fehler zu begehen, lehnte sich Jivvin an das Bett hinter ihm, zog seinen Feind mit dem Rücken zu sich heran, drückte Ni‘yos Kopf an seine Schulter und umfasste die schlaffen, weiterhin gelähmten Hände, in der Hoffnung, damit Trost zu schenken. Es kostete ihn viel Kraft, seinen Widerwillen gegen diese Nähe zu unterdrücken, alles zu unterlassen, was Ni’yo noch mehr Schmerz zugefügt hätte. Die Versuchung, ihm die Arme zu brechen, wehrlos wie der Junge gerade war, ihn dadurch auf Wochen kampfunfähig zu machen, fraß ihn beinahe auf.
Denk an deine Ehre. Ein Am’churi vergreift sich nicht an den Hilflosen, ob Feind oder nicht. Denk an deine Ehre!
Lange Zeit verharrten sie so, während die Lähmung immer weiter wich. Jivvin suchte nach Worten, mit denen er den Verletzten ablenken könnte, und fand kein einziges. Irgendwann bäumte sich Ni’yo in seinen Armen auf, klammerte sich mit so viel Verzweiflung an Jivvins Hände, dass er fürchtete, seine Finger könnten zersplittern. All dies geschah in Stille, nur unterbrochen von hastigen Atemzügen. Ni’yo schrie nicht, stöhnte nicht einmal mehr, kämpfte einfach nur still, bis er schließlich zurücksank. Jivvin ließ ihn los und lehnte sich gegen das Bett zurück. Noch nie war er von so vielen widerstreitenden Emotionen aufgewühlt worden. Alles schien Kopf zu stehen. Pérenn und Kamur gehörten nicht zu seinen Freunden, aber er hatte sie immer als seine Waffenbrüder angesehen, zuverlässige, gute Jungen. Bösartigkeit, Grausamkeit, das konnte er einfach nicht mit ihnen verbinden.
„Wie oft?“, fragte er schließlich. „Das wievielte Mal war es?“
„Neun“, wisperte Ni’yo matt. Er hatte sich abgewandt, versteckte das Gesicht unter den Armen.
„Neun Mal. Und jedes Mal haben sie dir diese Nadeln …?“
„Nein. Pérenn findet immer neue Möglichkeiten.“
„Wie lange geht das denn schon so?“
„Über zwei Jahre.“
Jivvin beugte sich vor, packte Ni’yos Arme und riss sie zur Seite. Der Junge war zu sehr geschwächt, um sich wehren zu können, starrte ihn nur hilflos an. Er weinte dabei stumm. Es schien allerdings mehr eine körperliche Reaktion zu sein, wie Niesen oder Gähnen, als wirkliche Tränen.
„Du lässt dich seit zwei Jahren foltern und vergiften? Leidest jedes Mal hier einsam vor dich hin, bis dein
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