Die Ehre des Ritters (German Edition)
Versuch bestanden hatte, dem hungernden Dorf etwas zu essen zu verschaffen. Dennoch erforderte sein Ungehorsam eine Züchtigungsmaßnahme.
»Sind noch Getreide- oder Mehlsäcke in der Mühle?«, fragte er Odo.
»Kein einziger mehr. Der Ort ist geräumt, davon habe ich mich selbst überzeugt.«
Griffin nickte. Die Ernte war vor mehreren Wochen eingebracht worden, daher würde die Mühle die letzten Wochen des Herbstes und den kommenden Winter über ungenutzt bleiben. An den Dutzenden Gesichtern vorbeischauend, die ihn angstvoll und mit sengender Verachtung zugleich anstarrten, musterte Griffin das still daliegende Holzgebäude. Nach einem Blick auf Odo reckte er kühl das Kinn in Richtung Mühle. »Brennt sie nieder.«
2
Auf der alten Römerstraße, die aus London hinausführte, herrschte an diesem Morgen reges Treiben, und laute Klagelaute erfüllten die Luft. Ein Edelmann sollte zur letzten Ruhe gebettet werden, und man kam nur im Schneckentempo voran, da die Reisenden auf dem Weg aus der Stadt innehielten, um die Trauergesellschaft passieren zu lassen.
Rauchfäden von den brennenden Kerzen und Öllampen, die man an der Spitze des Leichenzuges trug, verwehten in der Brise, schwebten über die demütig gesenkten Köpfe der begleitenden Nonnen und Geistlichen und über die von schwarzer Seide verhüllte Bahre des Verstorbenen hinweg, die mithilfe von zwei an Brettern befestigten Stangen getragen wurde. Die Familie des Edelmannes folgte direkt dahinter; zwei stolze Söhne stützten ihre weinende Mutter, halfen ihr, sich aufrecht zu halten, als der Kummer sie auf der Straße zu überwältigen drohte.
Die von einem halben Dutzend bewaffneter Männer eskortierte Sänfte, in der Isabel de Lamere saß, machte am Straßenrand halt. Isabel schob die Seidenvorhänge, die sie vor der gleißenden Sonne schützten, auseinander und betrachtete voller Mitgefühl, wie die traurige Prozession an ihnen vorüberzog.
Hinter der Witwe und ihren Söhnen ging ein kleines, in Schwarz gekleidetes Mädchen her. Ihr Gesicht war tränenverschmiert und gerötet, und sie umklammerte einen kleinen Blumenstrauß. Beim Anblick ihrer bebenden Lippen und zitternden Hände bekamen Isabels Augen einen traurigen Glanz, denn in gewisser Weise kannte sie dieses kleine Mädchen. Sie war einmal wie sie gewesen; schon in jungen Jahren war sie ihres Vaters beraubt und von ihrer Mutter, die den Verlust ihres Gatten nicht überwinden konnte, vergessen worden.
Isabel schenkte dem Mädchen ein freundliches Lächeln, als sie an der Sänfte vorüberkam. Sie teilte ihr Mitgefühl mit diesem teilnahmsvollen Blick mit und betete hoffnungsvoll und stumm, dass der Kummer des Mädchens im Laufe der Zeit schwinden und sich alles für sie zum Guten wenden würde. Die Kleine schien sich an Isabels Blick festzuhalten. Sie blinzelte durch die Tränen hindurch und bedachte sie im Vorübergehen mit einem zittrigen, flüchtigen Lächeln. Isabel sah ihr nach, bis die Körper der nachfolgenden Trauernden sie verdeckten.
»Welch ärgerliche Verzögerung«, murrte Isabels Reisegefährtin. Sie war etwa im gleichen Alter wie Isabel und sollte London ebenfalls verlassen, um auf Befehl des Königs einen Edelmann zu ehelichen.
Fast ebenso lange wie Isabel hatte Lady Felice in der Abgeschiedenheit des Klosters von St. Winifred gelebt und mit ihren achtzehn Jahren bereits die Auflösung zweier Verlobungen ertragen müssen. Nun wartete sie ganz offensichtlich voller Ungeduld darauf, dass die jüngste Vereinbarung Früchte trug. Sie schien zu befürchten, ihr Verlobter könne seine Meinung ändern und darum bitten, von seinen Verpflichtungen entbunden zu werden, sollte sie nicht in aller gebotenen Eile auf seinem Gut eintreffen.
Isabel war indes der Ansicht, er würde diese Bitte wohl eher äußern, sobald er seine zukünftige Braut kennenlernte. Obwohl die zierliche blonde Frau ein hübsches Gesicht und eine stattliche Mitgift besaß, konnte man Lady Felice bestenfalls als charmante Intrigantin bezeichnen und im schlimmsten Fall als boshafte Furie. Isabel konnte es kaum erwarten, dieser verwöhnten, sich ständig beklagenden jungen Frau am Ende ihrer Reise endlich Lebewohl sagen zu können.
»Um Himmels willen! Wie lange dauert das denn noch?«, fragte Felice ärgerlich und beugte sich vor, um über Isabel hinweg auf die belebte Straße zu blicken. »Wer ist denn gestorben?«, wollte sie von einem der Vorübereilenden wissen. »Ich hoffe, es war wenigstens jemand Wichtiges,
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