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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckl
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Vision
Der Felssteig
     
    D er Einödbauer hatte die uralte Hofstätte, auf der seine Familie seit Jahrhunderten heimisch gewesen war, verlassen; die Eingangstür des Wohnhauses hatte er nicht hinter sich zugezogen. Nun, einige Tage nachdem der Grauhaarige ins Ungewisse aufgebrochen war, schwang die Tür unter dem Druck eines widernatürlich heißen Windes hin und her, der stoßweise vom Arbermassiv herabfegte. Die Luftwirbel trugen Sandfahnen mit sich und trieben sie über die Schwelle der Haustür; drinnen im Flur lagerten sich die schwefelfarbenen Schwaden ab und häuften sich immer höher auf.
    Während dies geschah, befand sich der Alte schon sehr weit im Norden. Heimatlos und mit pfeifenden Lungen tappte er durch jene Region des toten Gebirges, wo einstmals die schier endlosen Forste des tschechischen Böhmerwaldes gerauscht hatten. Unbewußt folgte er dem Weg, den Monate zuvor der Kolibribunte genommen hatte: der Gottsucher und Narr mit dem nackten und dem bestiefelten Fuß. Längst war der Buntgekleidete mit dem braunen und dem blauen Auge aus der Steinwildnis hier oben verschwunden; entweder war er in irgendeine ferne Gegend gezogen, oder er hatte in der Ödnis den Tod gefunden – aber an seiner Stelle pilgerte jetzt taumelig der Einöder über die gefährlichen Gipfel- und Kammpfade, und so hatte sich auf geheimnisvolle Weise ein Kreis geschlossen.
    Der Grauhaarige erinnerte sich freilich nicht mehr an den seltsamen Gast, der mit seinem Wägelchen auf dem einschichtigen Anwesen aufgetaucht war; ebensowenig hätte er zu sagen gewußt, was genau ihn von seiner Heimstätte und dem Grab seines Weibes weggetrieben hatte. Der Alte wäre auch nicht mehr fähig gewesen, darüber nachzudenken, denn er war geistig und körperlich am Ende. Bloß dumpfes Empfinden war ihm noch geblieben; in seiner abgestumpften Wahrnehmung erschienen ihm die Felsen und Steinhänge, die ihn umgaben, wie schattenhafte Schemen, und seine Kraft reichte gerade noch dazu aus, mit unsicheren Bewegungen einen Fuß vor den anderen zu setzen.
    Sehr langsam, manchmal strauchelnd, bewegte sich der Einödbauer auf einem Felssteig vorwärts. Nach einer Weile wurde der ohnehin nicht sonderlich breite Weg noch schmaler; zwischen einem schroffen Absturz zur Linken und einer Steilwand zur Rechten blieben für den Pfad kaum mehr eineinhalb Meter Platz.
    Ein Stück weiter vorne, wo der Steig einen Bogen beschrieb, ragte eine Steinklippe empor – und auf ihrer Kuppe lauerte der Riesenluchs: der magere, heißhungrige Gelbflankige, der Faucher zwischen nackten Felsen, die reißzähnige Lefze, der Würger mit muskelstarkem Leib und katzenrundem Schädel, der Unerbittliche mit den langen, zuckenden Haarpinseln an den Ohrenspitzen; die wolfsgroße Raubbestie, die entweder aus einer entfernten östlichen Gegend zugewandert oder eine mutierte Ausgeburt der vom Menschen verursachten Umweltkatastrophe war.
    Jetzt, da der Grauhaarige herankam, duckte sich der Riesenluchs. Beutegierig, unterdrückt grollend, riß er den Rachen auf; sein Unterkiefer, den ihm der Buntgekleidete einst verrenkt hatte, war längst ausgeheilt. Mit gefletschten Zähnen wartete die Raubbestie ab, bis der Alte in Reichweite war – dann schnellte sie sich von der Klippe ab und sprang ihn an.
    Der Einöder stürzte rücklings auf den Felssteig; als sich die Reißzähne des Riesenluchses in seine Kehle gruben, stieß er einen röchelnden Schrei aus. Unmittelbar darauf zerschlitzte ihm die Raubbestie die Halsschlagader; im Sterben bäumte sich der Grauhaarige noch einmal auf – und da schlug der Riesenluchs wütend mit der Pranke zu.
    Der Tatzenhieb zerfetzte den Mantel und das Hemd über der Brust des Alten, und das Buch mit dem rissigen Ledereinband, welches der Einödbauer bei sich getragen hatte, wurde in den tiefen Abgrund geschleudert, der unterhalb des Pfades gähnte. Mehrmals prallte das Büchlein gegen Granitschroffen am Rand der Kluft; dadurch lösten sich die vergilbten Blätter voneinander und wirbelten zuletzt wie welkes, totes Laub auf den Grund der Schlucht.
    Dort unten fegte ein heulender Windstoß die über Jahrhunderte hinweg beschriebenen Seiten davon – der Gelbflankige aber stand mit glühenden Augen beim Leichnam des Einöders und fauchte den endgültigen Triumph des Todes über das wüste Steingebirge hin.

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