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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckl
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gemeinten Scherz zu.
    Damit hätte sich der Alte sagen können, daß das Schlimmste überstanden war und er es mit einiger Anstrengung, gutem Willen und zusätzlichen Ideen für seine gauklerischen Darbietungen schaffen könnte, sich das Wohlwollen der Machthaber von neuem zu erwerben. Doch so dachte er keineswegs; vielmehr sah er, während er kobolzte und Possen riß, ständig das verhärmte Antlitz seines Weibes vor sich.
    Denn sein Entschluß, ins Steingebirge heimzukehren und seiner Frau den Odem zu bringen, war trotz der Schläge und der Erniedrigungen, die er hatte erdulden müssen, ungebrochen. Mehr noch: Je weiter die Nacht fortschritt und je wüster das bacchanalische Treiben im Ratskeller wurde, desto inständiger sehnte er die Stunde herbei, in der ihm die Flucht möglich sein würde; die Stunde, in welcher die Orgie der Stadtherrscher ihr Ende nehmen würde.
    Und so tanzte er und spielte den Narren, bis die Machthaber, wie es regelmäßig geschah, vom Alkohol übermannt wurden. Teils rutschten sie, ihrer Sinne nicht mehr mächtig, von den Polsterstühlen und blieben röchelnd unter den versudelten Tischen liegen; teils schliefen sie auf den Ruhelagern ein, wo sie sich zuvor ihren sexuellen Ausschweifungen hingegeben hatten. Einige wenige, die noch fähig waren, sich einigermaßen aufrecht zu halten und sich notdürftig zu artikulieren, torkelten zur Tür und riefen lallend nach den schwarzuniformierten Bütteln, die draußen wachten, und wenig später verschwanden die Uniformträger mit den taumelnden Betrunkenen, um sie zu ihren Wohnhäusern zu führen.
    Der Grauhaarige wiederum, der nun kaum noch etwas von den Nachwirkungen des Schnapses spürte, den man ihm früher in der Nacht gewaltsam eingeflößt hatte, handelte jetzt rasch und zielbewußt. Zunächst griff er nach einer leeren Flasche und ging leise in den Vorraum, wo noch ein einziger übermüdeter Büttel auf einer Pritsche hockte. Der Uniformierte döste mit halbgeschlossenen Augen – und ehe er reagieren konnte, hatte ihm der Alte die Schnapsflasche über den Schädel geschlagen. Bewußtlos brach der Büttel zusammen; sicherheitshalber nahm ihm der Grauhaarige den Pistolengurt ab und fesselte ihm damit die nach hinten gezogenen Arme.
    Danach huschte er in den Festsaal zurück und verschwand dort in einer kleinen Nebenkammer, in welcher er seit seiner Ankunft in der Donaustadt gehaust hatte. Hastig, eine Verwünschung murmelnd, entledigte er sich des gelbgrünen Narrenkittels und zog statt dessen einen zerschlissenen Mantel an, der ihm bis dahin als Zudecke auf seiner ärmlichen Bettstatt gedient hatte. Dann schnappte er sich den Rucksack, den er aus den Steinbergen mitgebracht hatte, verließ die Kammer und lief zu einem jener Seitengewölbe des Ratskellers, in welchen die vielen Sauerstoffbehälter eingelagert waren.
    Manche der Stahlkartuschen waren zwei Meter lang, andere kleiner; außerdem gab es eine Reihe von Druckflaschen, die lediglich einen halben Meter maßen. Eine dieser handlicheren Kartuschen wählte der Alte für sich aus und verstaute sie zusammen mit einer Atemmaske in seinem Riemensack. Anschließend schnallte er sich den Rucksack mit der schweren Last darin um und ging zurück in den Saal.
    An einer der Tafeln blieb er stehen, raffte Nahrungsmittel zusammen und steckte sie in die Manteltaschen. Danach ließ er seinen Blick noch einmal über die schnarchenden und röchelnden Stadtherrscher gleiten, die auf dem verschmutzten Fußboden lagen, zischelte haßerfüllt: „Verreckt allesamt in eurem eigenen Gespieenen, ihr Drecksbrut!“ – und verließ den Ratskeller, in dem er der Hofnarr gewesen war, sodann mit schnellen Schritten.
    Als der Grauhaarige ins Freie kam, brauchte er eine Weile, um sich zu orientieren. Doch schließlich erinnerte er sich daran, in welcher Richtung die Donaubrücke lag, über die er vor endlos langer Zeit, wie es ihm schien, in die Stadt gekommen war. Im Schein des fahlen, bereits sinkenden Mondes, der niedrig über den Dächern der Häuser hing, machte sich der Alte auf den Weg zu der steinernen Bogenbrücke; nach ungefähr einer halben Stunde langte er, ohne einer Menschenseele begegnet zu sein, beim mittelalterlichen Torbau am südlichen Brückenkopf an.
    Von dort aus schaute er noch einmal kurz zur Innenstadt zurück; dann spuckte er aus und marschierte um so schneller weiter. Als er das Nordende der Brücke und damit die Grenze zu den ausgestorbenen Stadtteilen erreicht hatte, durfte er sich –

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