Die einsamen Toten
sie erregt. Sie liebten es, mit ihrem Geschmack und ihrem Geruch zu spielen, und reizten ihre Sinne bis aufs Äußerste. Aber andere wurden zerstört von ihrem Gift, zerfressen von der sinnlosen, heimtückischen Säure, die sich in ihr Gehirn fraß, bevor sie dagegen angehen konnten.
Man wusste nicht immer, wovor man Angst hatte. Ein Therapeut hatte Diane Fry einmal gesagt, dass eine einzelne Episode genügte, Angst in einem Menschen zu verankern und ihn dementsprechend zu konditionieren. Denn so hatte die Natur das menschliche Gehirn eingerichtet. Eine evolutionäre Errungenschaft, die einen Mechanismus auslöste, der einen davor bewahrte, sich ein zweites Mal in dieselbe gefährliche Situation zu begeben. Einmal Angst gehabt, für immer vorsichtig. Und aus diesem Grund genügten oft ein Geräusch, eine einzige Bewegung oder ein Geruch, um den Strom an Erinnerungen in Gang zu setzen, der Angst auslöste. Das Geräusch eines Schrittes auf einem knarrenden Dielenboden, der huschende Schatten einer sich im Dunkeln öffnenden Tür, der seifige Geruch von Rasierschaum, der sogar jetzt noch Übelkeit in ihr erzeugte.
Der durchsichtige Plastikbeutel mit dem Beweismaterial, den Diane Fry bei sich hatte, enthielt nichts Angsterregendes, nur ein verschrammtes und fleckiges Mobiltelefon. Warum hatte sie dann das Gefühl, am Beginn eines Prozesses zu stehen, der sie in einen langen, dunklen Tunnel in Richtung der Quelle ihrer Angst stoßen würde?
»Wissen die Eltern schon Bescheid, Sir?«, fragte sie.
Auch Detective Inspector Paul Hitchens war nicht zum Fürchten, jedenfalls soweit es Fry betraf. Im Gegenteil, ein fähiger Mann, dessen respektlose Haltung seinen Vorgesetzten gegenüber ihn auf der Karriereleiter jedoch nicht viel weiter nach oben klettern lassen würde. Er schien diese Schwäche ebenso wenig unter Kontrolle zu haben wie Fry den dunklen Schatten, der sich irgendwo in ihrem Hinterkopf bemerkbar gemacht hatte, als sie nach dem Beutel griff.
»Nein, Diane«, antwortete Hitchens. »Wir müssen in der Hinsicht sogar ziemlich vorsichtig sein und uns genau überlegen, wie viele Informationen wir an sie weitergeben werden.«
»Wieso?«
»Mr und Mrs Renshaw sind, tja, wie soll ich mich ausdrücken … Es ist nicht so einfach, mit ihnen zu reden.«
Fry war nicht im Mindesten überrascht. Seit sie aus den West Midlands zur Polizei von Derbyshire versetzt worden war, hatte sie festgestellt, dass mit den meisten Menschen im Peak District nur schwer zu reden war – einschließlich ihrer Kollegen bei der Division E. Sie fanden nicht nur ihre Mundart merkwürdig und exotisch, sondern sie schienen auch in einer völlig anderen Welt zu leben, in einer Welt, in der die Straßen einer Stadt, wie sie sie gekannt hatte, einfach nicht existierten.
»Ich möchte die genaue Stelle sehen, wo das Handy gefunden wurde«, bat sie.
»Selbstverständlich. Details, Namen und Adressen stehen alle hier drin. Die Mitglieder eines Wandervereins haben das Handy gefunden. Während ihrer Frühjahrsputzaktion. Sie haben einen zugewachsenen Wanderweg in der Nähe von Chapel-en-le-Frith von Abfall gesäubert. Das Telefon lag unter einer Unmenge Müll, den sie eingesammelt haben. Wäre es nicht so fest in eine Plastiktüte eingewickelt gewesen, wäre wahrscheinlich nichts mehr zum Identifizieren übrig geblieben.«
Trotz seines ramponierten Zustandes hatte die SIM-Karte noch in dem Mobiltelefon gesteckt. Über den Netzanbieter Vodafone hatte die Polizei eine Miss Emma Renshaw, Altes Pfarrhaus, Main Street, Withens, als Besitzerin ausfindig gemacht.
Fry schlug die Akte auf, die Hitchens ihr gegeben hatte. Kaum fiel ihr Blick auf das erste Foto, glaubte sie zu wissen, was ihre Angst ausgelöst hatte. Emma Renshaw stand in einem Garten, in einem weißen Pullover mit springenden Delphinen auf der Brust. Ihr Haar, das fast bis auf die Schultern reichte, war hell und glatt, und sie machte einen glücklichen Eindruck, wenngleich sie schüchtern und auch ein bisschen nervös wirkte.
Die zweite Aufnahme war etwas jüngeren Datums. Daneben stand, dass das Foto während Emmas Studienaufenthalt in Italien gemacht worden war. Aber sie hatte die Zeit nicht in Venedig, Florenz oder gar Rom verbracht, wo normalerweise jeder hinfuhr, um sich Kunst anzuschauen. Sie war in Mailand gewesen und hatte Werkstätten für zeitgenössisches Design abgeklappert. Das Wetter in Mailand war warm und sonnig gewesen. Das Foto zeigte Emma vor einem Café, zusammen mit
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