Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die einsamen Toten

Titel: Die einsamen Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Booth
Vom Netzwerk:
über die Wangen. Er fuhr sich mit der Hand über eine Hälfte seines Gesichts und verschmierte die Flecken nur noch mehr. Besorgt sah er Alton an, als er dessen pfeifenden Atem hörte.
    »Geht es Ihnen gut?«
    »Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte Alton. »Ich habe nur mal frische Luft gebraucht. Außerdem sollten wir jetzt nichts mehr anrühren, bis die Polizei hier war und sich alles angesehen hat.«
    »Da können Sie lange warten. Vielleicht bis Ostern.«
    »Ich weiß, ich weiß. Trotzdem …«
    »Sie halten sich gern an die Regeln.«
    Alton seufzte. »Wäre schön, wenn es für so etwas noch Regeln gäbe.«
    »Sie mögen Regeln, wie? Ich schätze, das hat was mit Ihrem Job zu tun.«

    »Na ja, da gibt es immerhin die Zehn Gebote.« Alton lächelte, um ihm zu zeigen, dass er es nicht so ernst meinte.
    »Auch hier in Withens?«, fragte Neil.
    »Ja, sogar hier in Withens.«
    »Ich denke, es gibt nicht ein Gebot, das hier nicht gebrochen wurde.«
    Ein paar Meter weiter weg verschwand eine Amsel im dichten Bewuchs auf den Grabplatten, die wie gefallene Monolithe vor der Kirche aufgereiht lagen. Die Amseln kehrten in der Dämmerung immer als Letzte zu ihren Schlafplätzen zurück. Mit ruckartigen Bewegungen rannten sie im Zwielicht über die Gräber und raschelten hoffnungsvoll zwischen den abgestorbenen Blättern auf der Suche nach Insekten und Larven. Ihre Aktivitäten genügten, um schreckhaften Menschen den Besuch der Kirche um diese Tageszeit zu verleiden. Selbst eine Amsel lebte in der Dualität. Sie war ebenso ein Geschöpf der Dunkelheit wie des Lichts.
    Neil klappte den Kragen seiner Jacke hoch, um sein Gesicht vor der Kälte zu schützen. Alton konnte seinen Schweiß riechen. Er empfand Zuneigung und Dankbarkeit für den jungen Mann, dass er sich die Mühe gemacht hatte und gekommen war, um ihm zu helfen. Nicht viele hätten das getan. Nicht in Withens.
    »Ich weiß zu schätzen, was du getan hast, Neil«, sagte er.
    Doch statt sich über Altons Dank zu freuen, wandte Neil sich ab und starrte auf den Friedhof.
    »Es tut mir Leid, Herr Pfarrer«, sagte er.
    »Was tut dir Leid?«, fragte Alton überrascht.
    Neil deutete auf den Friedhof. »Na, das hier. Es ist nicht das, was Sie erwartet haben, oder? Nicht, was Sie wirklich verdienen, vermute ich.«
    »Ich weiß nicht, was du meinst, Neil.«
    Neil lachte. Staub drang in seinen Hals, und er fing zu husten an. Alton sah die Ringe in seinen Ohren aufblitzen und bemerkte den Glanz seines schwarzen Haars. Er wollte die
Hand auf die Schulter des jungen Mannes legen und ihm versichern, dass alles in Ordnung sei. Wofür Neil sich auch immer entschuldigte, es war völlig in Ordnung. Aber er zögerte, aus Angst, seine Geste könnte missverstanden werden. Gleichzeitig bereute er es, so übervorsichtig zu sein. Er sollte Vergebung schenken können, wenn es das war, was Neil Granger brauchte. Doch bis diese Impulse zu seinem Gehirn vorgedrungen waren, war der Augenblick vorüber, und es war zu spät.
    Neil schien jedoch sofort wieder vergessen zu haben, was er gesagt hatte.
    »Also, wie bereits besprochen, wir nehmen dieses Wochenende den Friedhof in Angriff«, fuhr er in verändertem Ton fort.
    »Ja«, erwiderte Alton. »Das machen wir.«
    »Ich hatte gehofft, Philip würde uns helfen, aber er hat keine Lust.«
    »Dein Bruder hat momentan viel zu tun, das verstehe ich.«
    »Irgendwelche neuen Geschäfte. Ich blicke schon lange nicht mehr durch bei dem, was er so treibt. Aber wir zwei werden das auch allein schaffen, wie? Nicht vergessen, Herr Pfarrer – Tod und Erneuerung, Winter und Frühling -«
    »Die Dunkelheit und das Licht.«
    »Genau. Wird Zeit, dass wir etwas Licht in die Sache bringen, würde ich sagen.«
    Neil drehte sich zu dem Pfarrer um, aber Alton sah kaum seine Augen. Wie die Umgebung waren auch sie dunkel und lagen noch dazu im Schatten, so dass sich das wenige Licht, das aus dem Kirchenschiff in den Vorraum fiel, nicht in ihnen spiegeln konnte. Alton konnte den Ausdruck auf Neils Gesicht nicht erkennen. Ein seltsamer Gedanke kam ihm in den Sinn. Hätte er in dem Moment in Neils Augen lesen können, hätte er vielleicht überhaupt keinen Ausdruck wahrgenommen – nur die Grabsteine auf dem Friedhof hätten sich darin gespiegelt.
    »Ich muss morgen früh raus«, sagte Neil.

    Alton nickte. »Erinnerst du dich, vorletztes Jahr -?«
    Aber Neil hob die Hand, bevor Alton die Frage zu Ende stellen konnte.
    »Ich will nicht daran denken«, sagte er. »Vor zwei

Weitere Kostenlose Bücher