Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
außerhalb der Schulbank lag.
Am Tag zuvor hatten seine Eltern ihn ins Wohnzimmer gerufen, ihn auf dem Sofa Platz nehmen lassen und sich selbst ihm gegenüber gesetzt. »Jetzt erzähl uns doch mal von dieser Party«, forderte sein Vater ihn auf. Mattia rang die Hände, legte sie dann aber auf die Knie, so dass seine Eltern sie sehen
konnten, zuckte mit den Achseln und antwortete auf seine knappe Art: »Da gibt’s nichts zu erzählen.« Seine Mutter sprang nervös auf und ging in die Küche hinüber, während sein Vater zu ihm trat und ihm zweimal leicht auf die Schultern schlug, als glaube er, ihn wegen irgendetwas trösten zu müssen. Mattia dachte an die Zeit zurück, als er noch klein gewesen war und sein Vater an den heißesten Sommertagen abwechselnd Michela und ihm ins Gesicht gepustet hatte, um sie abzukühlen. Er erinnerte sich an das Gefühl, wie der Schweiß ganz sachte von der Haut verdampfte, und es überkam ihn eine schmerzliche Sehnsucht nach jenem Teil der Welt, der zusammen mit Michela im Fluss untergegangen war.
Jetzt fragte er sich, ob sich die Sache bei den Klassenkameraden herumgesprochen hatte. Ob vielleicht auch seine Lehrer Bescheid wussten. Und er meinte zu spüren, wie sich ihre verstohlenen Blicke wie ein Fischernetz verflochten und über ihn legten.
Er schlug sein Geschichtsbuch an einer beliebigen Stelle auf und begann alle Daten auswendig zu lernen, die auf dieser und den nächsten Seiten abgedruckt waren. Die nach einem logischen System geordneten Zahlen bildeten eine immer länger werdende Linie in seinem Kopf, und indem er ihr folgte, entfernte er sich langsam von dem Bild, wie Denis im Halbdunkel der großen Mansarde stand, und vergaß die Leere, die jetzt auf dem Stuhl neben ihm herrschte.
19
Während der Pause schlich sich Alice ins Sanitätszimmer im ersten Stock, ein schmales, weißes Räumchen, das mit einer Pritsche und einem verspiegelten Hängeschränkchen mit Utensilien für den Notfall eingerichtet war. Nur einmal zuvor hatte man sie hierherbringen müssen, als sie während des Sportunterrichts halb ohnmächtig geworden war, weil sie in den vierzig Stunden zuvor nur zwei Vollwertkräcker und einen kalorienarmen Müsliriegel gegessen hatte. »Überleg dir genau, was du da tust, überleg es dir ganz genau«, hatte an jenem Tag der Sportlehrer in seinem grünen Diadora-Trainingsanzug und mit der Trillerpfeife, die er nie benutzte, um den Hals, zu ihr gesagt. Dann ging er und ließ sie allein unter dem Neonlicht zurück, wo sie dann eine Stunde lang lag, ohne etwas tun oder auch nur anschauen zu können.
Alice fand jetzt das Erste-Hilfe-Schränkchen geöffnet vor. Sie nahm einen pflaumengroßen Wattebausch und das Fläschchen mit dem vergällten Alkohol zur Hand, schloss das Schränkchen und schaute sich nach einem schweren
Gegenstand um. Da war nur der Abfalleimer aus Hartplastik von einer blassen rotbräunlichen Farbe. Sie betete, dass niemand das Krachen hörte, und zertrümmerte den Spiegel des Schränkchens mit dem Eimerboden. Dann nahm sie behutsam, um sich nicht zu schneiden, eine dreieckige Glasscherbe zur Hand. Auf der verspiegelten Seite sah sie ihr rechtes Auge vorbeihuschen und war stolz, dass sie nicht geweint hatte, noch nicht einmal ein wenig. Sie steckte alles in die Mitteltasche ihres weiten Sweatshirts und kehrte in den Klassenraum zurück.
Den ganzen restlichen Morgen erlebte sie in einem Zustand seltsamer Abgestumpftheit. Kein einziges Mal drehte sie sich zu Viola und den anderen um und bekam auch rein gar nichts von der Stunde zu den Tragödien des Aischylos mit.
Während sie in einer Schlange mit allen Mitschülern den Klassenraum verließ, ergriff plötzlich Giulia Mirandi heimlich ihre Hand.
»Tut mir leid«, flüsterte sie ihr ins Ohr. Dann gab sie ihr einen Kuss auf die Backe und schloss wieder zu den anderen, die bereits im Flur waren, auf.
Unten, an der breiten, mit Linoleum ausgelegten Treppe in der Eingangshalle, wo sich chaotische Schülerströme in Richtung Ausgang wälzten, wartete sie auf Mattia. Mit einer Hand hielt sie sich am Geländer fest. Das kühle Metall vermittelte ihr ein Gefühl der Sicherheit.
Von jenem halben Meter Leere umgeben, den, bis auf Denis, niemand einzunehmen wagte, kam Mattia die Treppe herunter. In großen, zerzausten Locken hing ihm das schwarze Haar in die Stirn, bis fast über die Augen. Er achtete genau auf jeden Schritt und lehnte sich leicht zurück, während er
Stufe um Stufe nahm. Als Alice das erste
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