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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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Mal nach ihm rief, reagierte er nicht. »Mattia!«, rief sie noch einmal, lauter nun. Da hob er den Kopf, sagte befangen Ciao und strebte weiter auf die verglaste Ausgangstür zu.
    Alice bahnte sich ihren Weg durch die Schülerscharen und war im Nu bei ihm. Mattia zuckte zusammen, als sie seinen Arm ergriff.
    »Du musst mit mir kommen«, sagte sie.
    »Wohin?«
    »Das siehst du dann schon. Du musst mir bei etwas helfen.«
    Nervös blickte sich Mattia um, hielt Ausschau nach einer Bedrohung.
    »Aber mein Vater wartet draußen auf mich«, sagte er.
    »Dein Vater wird auch noch länger warten. Du musst mir helfen. Jetzt sofort.«
    Mattia stieß die Luft aus, sagte dann aber Okay, ohne dass er den Grund dafür hätte nennen können.
    »Dann komm.«
    Wie auf Violas Party nahm Alice ihn an der Hand, doch jetzt schlossen sich Mattias Finger spontan um die ihren.
    Alice ging so schnell, als würde sie vor jemandem davonlaufen. Sie ließen die Schülergrüppchen hinter sich und bogen im ersten Stock in einen leeren Flur ein. Die Türen vor den leeren Klassenzimmern standen offen. Alles wirkte verlassen.
    Sie erreichten die Mädchentoilette. Mattia blickte sie an. Ich darf hier nicht rein, lag es ihm auf der Zunge zu sagen, doch dann ließ er sich von Alice mitziehen. Als sie ihn in eine Kabine schob und abschloss, waren sie sich so nahe, dass seine Beine zu zittern begannen. Zwischen dem Stehklosett und der Tür war nur ein schmaler, gefliester Streifen, auf dem
ihre Füße kaum Platz hatten. Verstreut lagen Klopapierfetzten herum, die teilweise am Boden klebten.
    Jetzt küsst sie mich, dachte er.
    Du musst nichts weiter tun, als sie auch zu küssen, dachte er. Das ist leicht, das kann jeder.
    Alice zog den Reißverschluss ihres glänzenden Blousons herunter und begann sich auszuziehen, gerade so, wie sie es auch in Violas Zimmer gemacht hatte. Sie zog wieder das T-Shirt aus der Jeans heraus und ließ sie bis halb über den Hintern runter. Dabei schaute sie Mattia nicht an, es war, als wäre sie allein.
    Mattia sah, dass dort, wo am Samstag noch ein weißer Mullverband klebte, jetzt eine Blume in die Haut tätowiert war. Er machte Anstalten, etwas zu sagen, doch dann schwieg er und wandte den Blick ab.
    Es rührte sich etwas zwischen seinen Beinen, und er versuchte, sich abzulenken. Dazu las er wahllos einige der Sprüche an den Wänden, allerdings ohne deren Sinn aufzunehmen. Stattdessen fiel ihm auf, dass kein einziger parallel zu den Kachellinien geschrieben war. Fast alle bildeten den gleichen Winkel zur Fußbodenkante, und Mattia erkannte, dass dieser Winkel zwischen dreißig und fünfundvierzig Grad lag.
    »Hier, nimm«, sagte Alice.
    Sie drückte ihm eine Glasscherbe in die Hand, auf der einen Seite verspiegelt, auf der anderen schwarz, und spitz wie ein Dolch. Mattia verstand nicht, was das Ganze sollte. Sie aber hob sein Kinn an, genau so, wie sie es sich bei ihrer ersten Begegnung vorgestellt hatte.
    »Du musst sie wegmachen. Allein kann ich das nicht«, sagte sie.
    Mattia blickte von der Spiegelscherbe in seiner Hand auf
Alices rechte Hand, die auf die Tätowierung auf ihrem Unterleib zeigte.
    Sie kam seinem Protest zuvor.
    »Ich weiß, dass du das kannst«, sagte sie. »Ich will dieses Scheiß-Tattoo nie mehr sehen. Bitte, tu es für mich.«
    Mattia drehte die Klinge in seiner Hand hin und her, während ein Schauer seinen Arm durchlief.
    »Aber…«
    »Tu es für mich«, ließ Alice ihn nicht zu Wort kommen, indem sie ihm die Hand auf die Lippen legte und sofort wieder zurückzog.
    Tu es für mich, dachte Mattia. Vier Worte, die sich in seinem Kopf festsetzten und ihn dazu bewegten, vor Alice niederzuknien.
    Seine Fersen stießen gegen die Tür hinter ihm. Es war schwierig, eine einigermaßen bequeme Stellung zu finden. Schließlich strich er unsicher über die Tätowierung, über ihre Haut, um sie ein wenig zu straffen. So nah war sein Gesicht einem Mädchenkörper noch nie gewesen, und instinktiv atmete er tief ein, um den Geruch zu schmecken.
    Seine Hand war ruhig, als er die Spiegelscherbe Alices Leib näherte und die Haut mit einem kurzen Schnitt, nicht länger als eine Fingerkuppe, öffnete. Alice zitterte, und sie schrie auf.
    Erschrocken zog Mattia die Klinge zurück und verbarg sie hinter seinem Rücken, so als wolle er vertuschen, was er getan hatte.
    »Ich kann das nicht«, murmelte er.
    Er blickte auf. Alice weinte leise. Ihre Augen waren geschlossen, vor Schmerz zusammengekniffen.
    »Aber ich will sie

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