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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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Schatten in der Mitte des Raumes erkennen.
    Er rief nach ihm. Solange sie befreundet waren, hatte er seinen Namen nicht häufiger als zwei-, dreimal ausgesprochen. Es war nicht nötig gewesen, weil Denis immer da war, direkt neben ihm, wie eine natürliche Verlängerung seiner eigenen Gliedmaßen.
    »Hau ab!«, antwortete er.
    Mattia tastete nach dem Schalter und schaltete das Licht an. Der Raum war riesengroß und von hohen Bücherwänden eingefasst. Das einzige weitere Möbelstück war ein großer, leerer Holzschreibtisch. Mattia hatte den Eindruck, als sei schon lange niemand mehr dort oben gewesen.
    »Es ist fast elf. Wir müssen los«, sagte er.
    Denis antwortete nicht. Ihm den Rücken zuwendend, stand er da, exakt in der Mitte des großen Teppichs. Mattia trat auf den Freund zu. Als er bei ihm war, merkte er, dass er
geweint hatte. Durch die Zähne atmend, hatte er den Blick starr zu Boden gerichtet, und seine halb geöffneten Lippen bebten ein wenig.
    Erst jetzt bemerkte Mattia die zertrümmert am Boden liegende Schreibtischlampe.
    »Was hast du getan?«, rief er.
    Denis’ Atmen wurde zu einem Röcheln.
    »Denis, was hast du getan?«
    Mattia packte den Freund, der heftig zusammenzuckte, an der Schulter.
    »Was hast du getan?«, rief er noch einmal, indem er ihn anstieß.
    »Ich…«, setzte Denis an, brach dann aber sofort wieder ab.
    »Was hast du…?«
    Denis öffnete seine linke Hand und zeigte Mattia ein Stück der Lampe, eine grüne Glasscherbe, die durch den Schweiß in seiner Hand matt angelaufen war und die alles Licht in sich konzentrierte.
    »Ich wollte das Gleiche spüren wie du«, flüsterte er.
    Mattia konnte es nicht begreifen. Erschüttert trat er einen Schritt zurück. Ein starkes Brennen schoss ihm in den Unterleib und breitete sich in Arme und Beine aus.
    »Aber dann hab ich’s nicht geschafft«, sagte Denis.
    Er hielt die Handfläche geöffnet nach oben. Er schien auf etwas zu warten.
    Warum nur, wollte Mattia ihn fragen, schwieg aber. Gedämpft klang die Musik vom Stockwerk darunter zu ihnen herauf. Die niedrigen Frequenzen durchdrangen den Fußboden, während die höheren zurückgehalten wurden.
    Denis zog die Nase hoch. »Komm, wir gehen, weg von hier«, sagte er.

    Mattia nickte, doch keiner der beiden rührte sich vom Fleck. Dann drehte Denis sich abrupt um und hielt auf die Treppe zu. Mattia folgte ihm durchs Wohnzimmer und hinaus, wo die kühle Nachtluft sie erwartete, um sie wieder zu Atem kommen zu lassen.

17
    Viola entschied, ob man drinnen oder draußen war. Am Sonntagmorgen hatte Giadas Vater ihren Vater angerufen und damit das ganze Haus aufgeweckt. Es wurde ein langes Gespräch, das Viola, noch im Schlafanzug, mit dem Ohr an der Tür des Elternschlafzimmers zu belauschen versuchte, was ihr aber nicht gelang.
    Als sie das Bett quietschen hörte, rannte sie flugs in ihr Zimmer zurück, kroch unter die Bettdecke und stellte sich schlafend. Du wirst mir einiges erklären müssen, sagte ihr Vater, indem er sie weckte, im Moment nur so viel: In diesem Haus werden keine Partys mehr stattfinden, und Festivitäten bei Freunden kannst du in der nächsten Zeit auch vergessen. Beim Mittagessen wollte ihre Mutter wissen, was mit der Lampe in der Mansarde geschehen sei, und anders als sonst ergriff ihre Schwester diesmal nicht Partei für sie. Es war ihr nicht entgangen, dass sich Viola an ihrem Tablettenvorrat bedient hatte.
    Den ganzen Tag verbrachte sie eingeschlossen auf ihrem
Zimmer zu, gedemütigt und mit strengem Telefonverbot. Zudem ging ihr nicht aus dem Kopf, wie Alice und Mattia sich an den Händen gehalten hatten. Während sie sich die letzten Nagellackreste von den Fingernägeln kratzte, entschied sie: Alice ist draußen.
     
    Am Montagmorgen schloss sich Alice im Bad ein, um endgültig die Mullbinde zu entfernen, die ihre Tätowierung schützte. Sie knüllte sie gut zusammen und warf sie ins Klo, zusammen mit den zerbröselten Keksen, die sie beim Frühstück verschmäht hatte.
    Im Spiegel betrachtete sie das Stiefmütterchen auf ihrem Unterleib und überlegte, dass sie ihren Körper nun schon zum zweiten Mal endgültig verändert hatte. Der Schauer, der sie bei diesem Gedanken durchfuhr, war eine wohlige Mischung aus Reue und Sorge. Dieser Körper gehörte nur ihr allein, dachte sie, und wenn ihr danach war, durfte sie ihn auch zerstören, verunstalten mit unauslöschlichen Zeichen oder ihn abmagern und verdorren lassen, wie eine Blume, die ein kleines Mädchen aus Übermut

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