Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
nicht mehr sehen«, wimmerte sie.
Es war offensichtlich, dass sie der Mut verlassen hatte, und
Mattia fühlte sich erleichtert. Er stand auf. Wir sollten jetzt gehen, dachte er.
Mit der Hand wischte sich Alice den Bluttropfen fort, der ihr den Bauch hinunterrann. Sie knöpfte sich die Jeans zu, während Mattia versuchte, etwas Tröstendes zu ihr zu sagen.
»Da gewöhnst du dich dran. Irgendwann wirst du sie gar nicht mehr sehen.«
»Ja, wie denn? Ich hab sie doch immer direkt vor der Nase.«
»Eben«, erwiderte Mattia. »Genau deshalb wird sie dir irgendwann nicht mehr auffallen.«
Der andere Raum (1995)
20
Mattia hatte recht behalten: Tag für Tag war die Zeit wie ein Lösungsmittel über Alices Haut hinweggestrichen, und jeder einzelne hatte eine hauchdünne Schicht von ihrer Tätowierung sowie von beider Erinnerungen daran abgetragen. Die Umrisse - wie auch die Umstände - waren zwar noch da, schwarz und klar gezeichnet, doch die Farben waren ineinander übergegangen und zu einem matten, einheitlichen Farbton, zu einer neutralen Bedeutungslosigkeit, ausgeblichen.
Die Jahre auf dem Gymnasium waren für beide wie eine ständige Wunde gewesen, zu tief, als dass sie jemals hätte heilen können. Wie mit angehaltenem Atem hatten sie die Zeit durchlebt, Mattia, indem er die Welt mied, und Alice, indem sie sich von der Welt gemieden fühlte, und dabei hatten beide festgestellt, dass dies kein großer Unterschied war. Zwischen ihnen war eine Freundschaft entstanden, ungleich und unvollkommen, mit vielen Pausen und langem Schweigen, aber ein leerer, sauberer Raum, in den sie sich flüchten konnten, um durchzuatmen, wenn die Mauern der Schule zu
nahe rückten, um das Gefühl, ersticken zu müssen, ignorieren zu können.
Doch mit den Jahren hatten sich die Wunden ihrer Jugend geschlossen, hatten sich unmerklich, doch stetig die Wundränder einander angenähert. Weitere Verletzungen hatten die Kruste abgeschürft, die sich jedoch immer wieder neu bildete, fester und dunkler als zuvor, bis schließlich eine neue glatte, dehnbare Hautschicht die verlorene Haut ersetzt hatte. Die Narbe, zunächst rosafarben, war immer weißer geworden und schließlich mit allen anderen Narben verschmolzen.
Nun lagen sie auf Alices Bett, sie mit dem Kopf am oberen, er am unteren Ende, beide mit unnatürlich angewinkelten Beinen, um sich mit keiner Körperstelle zu berühren. Alice überlegte, dass sie sich umdrehen könnte, um mit den Zehenspitzen seinen Rücken zu berühren und dabei so tun, als wenn es unabsichtlich geschehen sei. Aber sie war sich fast sicher, dass er sofort von ihr wegrücken würde, und wollte sich diese kleine Enttäuschung ersparen.
Keiner der beiden hatte daran gedacht, Musik aufzulegen. Gar nichts hatten sie im Sinn, außer einfach nur dort zu liegen und zu warten, dass der Sonntagnachmittag vorüberging und der Zeitpunkt gekommen wäre, wieder etwas Notwendiges zu tun, wie zu Abend zu essen, zu schlafen und eine neue Woche zu beginnen. Durch das geöffnete Fenster fiel ein gelbes Septemberlicht zu ihnen ins Zimmer und brachte ein ununterbrochenes Rauschen von der Straße her mit.
Als sich Alice aufs Bett stellte, schwankte die Matratze nur ein klein wenig unter Mattias Kopf. Die Hände zu Fäusten geballt und in die Hüften gestemmt, schaute sie Mattia von oben herab an, mit strenger Miene, die von ihren ins Gesicht fallenden Haaren verborgen wurde.
»Bleib liegen«, sagte sie. »Rühr dich nicht.«
Sie stieg über ihn hinweg und sprang vom Bett, mit dem gesunden Bein, während sie das andere wie etwas hinter sich herzog, was versehentlich haften geblieben war. Mattia legte das Kinn auf die Brust, um Alices Bewegungen im Raum zu verfolgen. Er sah, wie sie eine quadratische Schachtel auf dem Schreibtisch öffnete, die er bis dahin noch nicht bemerkt hatte.
Ein Auge geschlossen, das andere hinter einem alten Fotoapparat verborgen, drehte sich Alice zu ihm um. Mattia machte Anstalten, sich aufzurichten.
»Runter«, befahl sie ihm. »Ich hab dir doch gesagt, rühr dich nicht.«
Schon drückte sie auf den Auslöser. Die Polaroidkamera streckte eine dünne, weiße Zunge heraus, die Alice zur Hand nahm und hin und her schwenkte, um die Farben entstehen zu lassen.
»Wo hast du die denn her?«, fragte Mattia.
»Aus dem Keller. Die hat meinem Vater gehört. Irgendwann hat er sie mal gekauft und dann doch nie benutzt.«
Mattia richtete sich auf. Alice ließ das Foto auf den Teppich fallen und schoss noch
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