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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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absichtlich Mattia mit der Schulter an, um dieses Gleichgewicht zu zerstören, das ihn so aufwühlte. Einen Moment lang sah Mattia in seine geröteten, schreckgeweiteten Augen, und aus irgendeinem Grund musste er plötzlich an Michelas Augen denken, die ihn so hilflos angeschaut hatten, damals im Park. In den Jahren darauf würden diese beiden Blicke in seiner Erinnerung zu einem einzigen Sinnbild unbeherrschbarer Angst verschmelzen.
    Er ließ Alices Hand los. Es war, als hätten sich alle seine Nervenenden an dieser Stelle konzentriert, und als er sich löste, kam es ihm so vor, als stöben von seinem Arm Funken wie von einem blanken Stromkabel auf.
    »Entschuldige«, murmelte er und verließ die Küche, um Denis nachzulaufen.
    Alice trat zu Viola, die sie mit versteinertem Blick ansah.
    »Wir…«, begann sie.
    »Das ist mir doch egal«, unterbrach Viola sie barsch. Als sie Alice und Mattia zusammen gesehen hatte, hatte sie an
den Jungen denken müssen, der damals in den Ferien am Meer ihre Hand zurückgewiesen hatte, während sie sich doch wünschte, genauso, Hand in Hand, mit ihm zu den anderen am Strand zurückzukommen. Sie war neidisch, überwältigt von einem heftigen, beißenden Neid, und wütend, weil sie das für sich selbst ersehnte Glück gerade einer anderen geschenkt hatte, sie fühlte sich bestohlen, so als habe sich Alice auch ihren Anteil genommen.
    Alice beugte sich vor, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, doch Viola nahm den Kopf zurück, blickte sie an und fragte:
    »Was willst du denn noch?«
    »Nichts.« Erschrocken wich Alice zurück.
    In diesem Moment krümmte sich Giada, als hätte ihr irgendwer einen Faustschlag in den Magen versetzt. Mit einer Hand stützte sie sich auf die Arbeitsplatte, während sie sich mit der anderen den Bauch hielt.
    »Was hast du denn?«, fragte Viola.
    »Ich muss kotzen«, stöhnte sie.
    »Ihhh, wie eklig, dann geh doch ins Bad!«, schrie die Gastgeberin sie an.
    Aber es war bereits zu spät. Mit einem Ruck erbrach das Mädchen sich auf den Fußboden, gab einen Schwall rötlicher, breiiger Flüssigkeit von sich, die wie eine durchgemixte Süßspeise von Soledad aussah.
    Angeekelt wichen die anderen zurück, während Alice sie zu stützen versuchte, indem sie ihr einen Arm um die Hüften legte. Augenblicklich machte sich ein ranziger Schnapsgestank breit.
    »Na toll!«, rief Viola fast flennend. »Was für eine beschissene Fete!«
    Damit stürmte sie aus dem Raum, die Fäuste in die Seiten
gestemmt, als müsste sie sich mit Gewalt davon abhalten, irgendetwas zu zertrümmern. Alice blickte ihr beunruhigt nach und wandte sich dann wieder Giada zu, die mit kurzen Schluchzern weinte.

16
    Die anderen Gäste standen in Grüppchen über das ganze Wohnzimmer verteilt. Die meisten Jungen wiegten die Köpfe im Takt der Musik, während die Mädchen ihre Blicke durch den Raum schweifen ließen. Einige hielten ein Glas in der Hand. Andere tanzten zu A Question of Time , und Mattia fragte sich, wie sie sich bloß dabei wohlfühlen konnten, vor aller Augen so herumzuhampeln. Dann überlegte er, dass es sich wohl um die normalste Sache der Welt handelte und er selbst aus ebendiesem Grund dazu nicht fähig war.
    Denis war verschwunden. Mattia suchte ihn überall, im Wohnzimmer und dann in Violas Zimmer. Er schaute auch im Zimmer von deren Schwester nach und im Elternschlafzimmer. Er warf einen Blick in beide Bäder und stieß in einem davon auf einen Jungen und ein Mädchen von seiner Schule. Sie saß auf der geschlossenen Kloschüssel, während er mit gekreuzten Beinen vor ihr auf dem Fußboden hockte. Die beiden musterten ihn mit trauriger, fragender Miene, und Mattia zog eilig die Tür wieder zu.

    Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und trat auf den Balkon hinaus. Düster fiel der Hügel ins Tal ab, doch darunter breitete sich die Stadt mit ihren Lichtern aus, mit weißen und roten Pünktchen, die, so weit das Auge reichte, gleichmäßig in der Ebene verteilt waren. Mattia lehnte sich über das Geländer und ließ den Blick suchend zwischen den Bäumen des großen Gartens der Villa hin und her schweifen, konnte aber niemanden erblicken. Während er wieder hineinging, bekam er vor Anspannung und Sorge kaum noch Luft.
    Eine Wendeltreppe führte vom Wohnzimmer zu einer dunklen Mansarde hinauf. Er nahm die ersten Stufen und blieb dann keuchend stehen.
    Wo steckt der bloß?, dachte er.
    Dann ging er weiter, bis ganz hinauf. Durch den Lichtschein vom Stockwerk darunter konnte er Denis’

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