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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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abgerissen hat und die dann am Wegesrand verwelkt.
    An diesem Morgen würde sie Viola und den anderen auf dem Mädchenklo ihre Tätowierung vorführen. Und sie würde ihnen erzählen, wie sie und Mattia sich lange geküsst hatten. Mehr würde sie gar nicht hinzuerfinden müssen. Wenn sie Einzelheiten wissen wollten, reichte es, ihre Phantasien zu bestätigen.
    Im Klassenzimmer legte sie den Rucksack auf ihrem Stuhl ab und ging dann zu Violas Tisch hinüber, wo bereits die anderen versammelt waren. Während sie sich näherte, hörte sie Giulia Mirandi zischen: Da kommt sie. Mit strahlender
Miene sagte sie Ciao , doch niemand antwortete. Als sie sich zu Viola hinabbeugte, um ihr zwei Küsse auf die Wangen zu geben, wie diese selbst es ihr beigebracht hatte, rührte die Freundin sich keinen Millimeter.
    Alice richtete sich auf und schaute nacheinander in vier streng dreinblickende Augenpaare.
    »Gestern war uns allen schlecht«, begann Viola.
    »Ach tatsächlich?«, fragte Alice ehrlich besorgt. »Was hattet ihr denn?«
    »Entsetzliche Bauchschmerzen. Wir alle«, schaltete sich Giada in aggressivem Ton ein.
    Alice hatte wieder das Bild vor Augen, wie Giada sich auf den Fußboden erbrach, und es lag ihr auf der Zunge, Kein Wunder, so viel wie du getrunken hast … zu antworten.
    »Ich hatte nichts«, sagte sie stattdessen.
    »Natürlich nicht. Das haben wir nicht anders erwartet«, höhnte Viola, indem sie die anderen anblickte.
    Giada und Federica lachten, und Giulia schlug die Augen nieder.
    »Was willst du damit sagen?«, fragte Alice verwirrt.
    »Das weißt du sehr genau«, erwiderte Viola, indem sie schlagartig den Ton ihrer Stimme änderte und sie mit ihren wunderschönen Augen anblitzte.
    »Nein, weiß ich nicht«, wehrte sich Alice.
    »Du hast uns vergiftet«, fuhr Giada sie an.
    »Vergiftet? Was meint ihr damit?«
    Jetzt mischte sich, in schüchternem Ton, Giulia ein.
    »Lasst doch, Mädels, es ist ja nicht wahr.«
    »Doch. Natürlich hat sie uns vergiftet«, wiederholte Giada. »Sie hat irgendwas in diesen Nachtisch getan.«
    Dann wandte sie sich wieder direkt an Alice. »So richtig
dreckig sollte es uns gehen, nicht wahr. Toll, das ist dir hervorragend gelungen.«
    Alice vernahm die aneinander gereihten Worte, brauchte aber einige Sekunden, um deren Bedeutung zu verstehen. Sie schaute zu Giulia, die ihr mit ihren großen blauen Augen sagte: Tut mir leid, ich kann nichts dagegen tun. Dann suchte sie Hilfe in Violas Augen, doch deren Blick war leer.
    Giada hielt sich eine Hand auf den Bauch, als würde sie immer noch von Krämpfen geschüttelt.
    »Aber ich hab den Nachtisch mit unserer Haushälterin zusammen gemacht. Und alle Zutaten haben wir frisch im Supermarkt gekauft.«
    Sie erhielt keine Antwort. Jede schaute in eine andere Richtung, so als warteten sie nur darauf, dass die Mörderin endlich Leine zog.
    »Das kann nicht an Soledads Nachspeise gelegen haben. Ich hab doch auch davon gegessen, und mir ist nicht schlecht geworden«, log Alice.
    »Du bist eine falsche Schlange«, schleuderte ihr Federica Mazzoldi entgegen, die bis zu diesem Augenblick geschwiegen hatte. »Keinen Happen hast du davon gegessen. Alle wissen doch, dass du …«
    Sie brach ab.
    »Hört doch auf«, flehte Giulia. Sie schien fast zu weinen.
    Alice legte eine Hand auf ihren flachen Bauch. Unter der Haut spürte sie ihr Herz schlagen.
    »Was wissen alle?«, fragte sie mit ruhiger Stimme.
    Viola Bai schüttelte langsam den Kopf. Schweigend betrachtete Alice ihre Exfreundin und wartete auf Worte, die aber nicht ausgesprochen wurden, sondern wie durchsichtige Rauchschwaden in der Luft hingen. Auch als es zur Stunde
läutete, rührte sie sich nicht. Und die Tubaldo, die Physik gab, musste sie zweimal beim Namen rufen, bevor sie auf ihren Platz zurückging.

18
    Denis war nicht zur Schule gekommen. Auf der Heimfahrt am Samstagabend hatten sich Mattia und er nicht ein einziges Mal angesehen. Einsilbig hatte Denis auf die Fragen von Mattias Vater geantwortet und war dann ausgestiegen, ohne auch nur Ciao zu sagen.
    Mattia legte eine Hand auf den leeren Stuhl an seiner Seite. Hin und wieder gingen ihm die Worte durch den Kopf, die Denis in dieser düsteren Mansarde zu ihm gesagt hatte, und entschwanden dann wieder zu schnell, als dass er ihrer vollen Bedeutung hätte auf den Grund gehen können.
    Es war ihm auch nicht so wichtig, sie wirklich zu verstehen, gestand er sich ein. Er wollte nur, dass Denis da wäre, als Schutzschild gegen alles, was

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