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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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eins.
    »Ach, lass doch«, protestierte er. »Auf Fotos sehe ich so blöd aus.«
    »Das tust du immer.«
    Sie knipste noch einmal.
    »Ich will Fotografin werden«, sagte Alice. »Das steht fest.«
    »Und die Uni?«
    Alice zuckte mit den Schultern.
    »Die interessiert nur meinen Vater. Soll er doch hingehen.«
    »Willst du etwa abbrechen?«
    »Vielleicht.«

    »Das kannst du nicht machen. Du kannst doch nicht von heute auf morgen beschließen, Fotografin zu werden, und ein ganzes Jahr Lernen einfach abschreiben. So geht das nicht«, sagte er.
    »Ach ja, ich hab ganz vergessen, dass ihr euch so ähnlich seid, du und mein Vater«, antwortete Alice spöttisch. »Ihr wisst immer ganz genau, was man zu tun und zu lassen hat. Mit fünf wusstest du schon, dass du mal Mathe studieren willst. Ihr seid langweilig. Alt und langweilig.«
    Damit drehte sie sich zum Fenster um und knipste wahllos hinaus. Auch diese Aufnahme ließ sie neben die anderen beiden auf den Teppich fallen. Dann stellte sie sich mit den Füßen darauf und trampelte auf den Fotos herum, als presse sie Trauben aus.
    Mattia überlegte, wie er sie besänftigen könnte, blieb aber stumm. Er bückte sich nur, um das erste Foto unter Alices Fuß hervorzuziehen. Die Umrisse seiner hinter dem Kopf verschränkten Arme traten mehr und mehr vor dem weißen Hintergrund hervor. Er fragte sich, was das für eine bemerkenswerte chemische Reaktion war, die da auf dieser glatten Oberfläche ablief, und nahm sich vor, im Lexikon nachzuschauen, sobald er wieder zu Hause war.
    »Ich will dir noch was anderes zeigen«, sagte Alice.
    Achtlos wie ein kleines Mädchen, das eines Spielzeugs überdrüssig ist, weil es etwas anderes, Verlockenderes entdeckt hat, warf sie den Fotoapparat aufs Bett und verließ das Zimmer.
    Gut zehn Minuten war sie verschwunden. Währenddessen sah er sich die Bücher an, die schräg in einer Reihe in dem Regal über dem Schreibtisch standen. Es waren dieselben wie immer. Er reihte die Anfangsbuchstaben aller Titel aneinander,
aber es kam kein sinnvolles Wort dabei heraus. Es wäre schön, eine logische Ordnung in dieser Reihe zu erkennen, dachte er. Wahrscheinlich hätte er selbst sie anhand der Farbe der Buchrücken sortiert, vielleicht dem elektromagnetischen Spektrum folgend von Rot zu Violett, oder auch ihrer Höhe nach in abfallender Ordnung.
    »Ta-taaa!« Alices Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
    Er drehte sich um und sah sie auf der Schwelle stehen, mit den Händen die Blendrahmen der Tür umklammernd, als fürchte sie hinzufallen. Sie trug ein Brautkleid, das wohl irgendwann einmal strahlend weiß gewesen war und im Laufe der Zeit gelbe Ränder bekommen hatte, so als werde es von einer Krankheit langsam verzehrt. Die langen Jahre im Karton hatten es steif und starr werden lassen. Schlaff fiel das Oberteil auf Alices flache Brüste. Das Dekolleté war nicht betont, reichte aber aus, um einen Träger einige Zentimeter über die Schulter rutschen zu lassen. In dieser Haltung standen Alices Schlüsselbeine noch stärker als gewöhnlich hervor, unterbrachen die weiche Linie des Halses und markierten eine kleine Senke, die so leer war wie das Becken eines ausgetrockneten Sees. Mattia fragte sich, wie es sich anfühlen mochte, bei geschlossenen Augen mit der Fingerspitze am Rand entlangzufahren. Die Spitze unten am Ärmel war zerknittert und am linken Arm ein wenig aufgeraut. Ein langer Schleier fiel bis in den Flur hinein, wo Mattia ihn nicht mehr sehen konnte. An den Füßen trug Alice immer noch ihre roten Hausschuhe, die unter dem weiten Rock hervorschauten und einen komischen Kontrast zu ihrer übrigen Aufmachung bildeten.
    »Was ist los? Warum sagst du denn nichts?«, fragte sie, ohne ihn anzuschauen, während sie sich mit einer Hand den
Tüll des Rockes glatt strich. Minderwertig, künstlich fühlte er sich an.
    »Von wem ist das?«, fragte Mattia.
    »Von mir. Siehst du doch.«
    »Nein, im Ernst.«
    »Von wem soll es schon sein? Von meiner Mutter natürlich.«
    Mattia nickte und stellte sich Signora Fernanda in diesem Kleid vor, sah sie vor sich mit dem Gesichtsausdruck, den sie immer aufsetzte, wenn er abends, bevor er nach Hause ging, noch im Wohnzimmer, wo der Fernseher lief, reinschaute, ein Ausdruck des Wohlwollens und des tiefen Bedauerns, wie für einen Kranken, den man im Krankenhaus besucht. Ein unpassender, lächerlicher Gesichtsausdruck, wenn man bedachte, dass sie selbst schon schwer erkrankt war und ihr Körper langsam

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