Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
und das Rauschen der Autos auf der Schnellstraße.
Gern hätte sie Mattia von der Sache erzählt, denn er hätte sie verstehen können. Aber der war weit fort. Crozza, so überlegte sie, würde sich zunächst furchtbar ärgern, ihr dann aber verzeihen. Das wusste sie genau.
Sie musste lachen. Dann nahm sie sich die Kamera vor, öffnete sie, entnahm den Film und zog ihn langsam aus der Hülse. Im weißen Licht der Sonne.
Was bleibt (2007)
31
Sein Vater rief immer mittwochabends an, zwischen acht und viertel nach acht. In den letzten neun Jahren hatten sie sich nur selten gesehen, und seit ihrem letzten Treffen war schon wieder viel Zeit vergangen, doch das Telefon in Mattias Zweizimmerwohnung klingelte nie vergeblich. In den langen Pausen zwischen ihren Worten waren beide vom selben Schweigen umgeben, kein laufender Fernseher, kein Radio war zu hören, keine Gäste, die im Hintergrund mit Besteck und Tellern klapperten.
Mattia konnte sich vorstellen, wie seine Mutter vom Sessel aus das Telefongespräch mit anhörte, die Unterarme auf den Armlehnen und ohne eine Miene zu verziehen, so wie früher, als sie sich von Michela und ihm die Gedichte vortragen ließ, die sie in der Grundschule auswendig lernen mussten und die er immer konnte, während Michela schwieg, weil sie auch das, wie alles andere, nicht schaffte.
Jeden Mittwoch, nachdem er aufgelegt hatte, saß Mattia da und fragte sich, ob der Sessel wohl immer noch mit dem
orangefarbenen Blumenmuster bezogen war oder ob seine Eltern den schon damals zerschlissenen Stoff mittlerweile ersetzt hatten. Und er fragte sich, ob sie alt geworden waren. Natürlich waren sie gealtert. Er hörte es ja an der Stimme seines Vater, die langsamer und angestrengter klang als früher, und auch sein Atmen beim Telefonieren war lauter geworden und glich mehr einem Keuchen.
Seine Mutter ließ sich nur hin und wieder den Hörer geben und stellte dann immer dieselben rituellen Fragen. Ist es kalt bei euch, hast du schon gegessen, wie laufen deine Vorlesungen? Hier isst man früher als bei uns zu Abend, so um sieben, hatte Mattia die ersten Male noch erklärt. Inzwischen antwortete er nur noch mit einem Ja.
»Ja, bitte?«, sagte er jetzt.
Es gab überhaupt keinen Grund für ihn, sich auf Englisch zu melden. Seine Privatnummer hatten gerade einmal zehn Leute, und von denen wäre keiner auf die Idee gekommen, ihn um diese Zeit anzurufen.
»Ich bin’s, Papa.«
Die Verzögerung bis zur Antwort war kaum der Rede wert. Mit einer Stoppuhr hätte Mattia sie messen können, um dann auszurechnen, wie weit das Signal von der mehr als tausend Kilometer langen Geraden abwich, die seinen Vater und ihn verband, doch er vergaß es jedes Mal.
»Ciao. Wie geht’s dir?«, fragte Mattia.
»Gut. Und dir?«
»Auch gut … Und Mama?«
»Die sitzt hier bei mir.«
Genau an dieser Stelle entstand immer das erste Schweigen, wie das Luftholen nach einer Bahn Tauchen.
Derweilen kratzte Mattia mit dem Zeigefinger durch den
Riss, der sich im hellen Holz des runden Tisches auftat, ungefähr eine Handbreit von der Mitte entfernt. Er wusste gar nicht mehr, ob dieser Riss von ihm selbst oder von den Vormietern stammte. Der Pressspan gleich unter der lackierten Oberfläche verfing sich unter seinem Fingernagel, ohne dass es ihm wehgetan hätte. Jeden Mittwoch kratzte er diese Rinne um einige Bruchteile von Millimetern tiefer aus, aber sein ganzes Leben würde nicht reichen, um den Durchbruch zur anderen Seite zu schaffen.
»Und? Hast du ihn dir jetzt mal angesehen, den Sonnenaufgang?«, fragte sein Vater ihn.
Mattia lächelte. Es war ein Spiel zwischen ihnen beiden, vielleicht das einzige, das sie hatten. Ungefähr ein Jahr zuvor hatte Pietro in einer Zeitung gelesen, dass der Sonnenaufgang über der Nordsee ein unvergessliches Erlebnis sei, und seinem Sohn abends am Telefon davon erzählt. Du musst unbedingt mal losgehen und dir das ansehen, hatte er ihm ans Herz gelegt. Seit jenem Tag fragte er ihn regelmäßig danach. Und Mattia antwortete jedes Mal mit Nein. Sein Wecker war immer auf acht Uhr siebzehn gestellt, und der kürzeste Weg zur Universität führte nicht am Meer entlang.
»Nein, bis jetzt noch nicht«, antwortete er.
»Na ja, das läuft dir ja auch nicht davon«, meinte Pietro.
Schon war alles gesagt, doch sie zögerten noch einige Sekunden, mit dem Hörer am Ohr. Beide nahmen sie noch ein wenig von der Zuneigung in sich auf, die sich zwischen ihnen erhalten hatte, entlang Hunderter von
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