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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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verlangen.
    »Ich weiß nicht, ob…«
    »Bitte«, unterbrach ihn Alice.
    Crozza streichelte sich mit einem Finger über den Rand des Ohres und war gezwungen, den Blick abzuwenden.
    »Also gut«, gab er schließlich nach. Dabei wusste er selbst nicht so genau, wieso er noch leise hinzufügte: »Aber mach keinen Mist.«
    »Versprochen«, nickte Alice und lächelte dabei, sodass ihre transparenten Lippen verschwanden.
    Dann reckte sie sich, immer noch auf die Ellbogen gestützt, vor und gab ihm einen Kuss, der Crozza noch drei Tage lang auf dem Bart kitzelte.
    »Jetzt geh schon«, sagte er, indem er sie mit einer Handbewegung fortwinkte.

    Alice lachte, und dieses Lachen verteilte sich in der Luft, während sie mit jenem rhythmischen, schlängelnden Gang, der so typisch für sie war, den Laden verließ.
    An diesem Abend blieb Crozza noch ein wenig länger im Laden, obwohl er hier nichts zu tun hatte. Er betrachtete die Dinge, die ihn umgaben, und hatte das Gefühl, dass sie nun wieder präsenter waren, so wie viele Jahre zuvor, als sie sich praktisch aufdrängten, um fotografiert zu werden.
    Er nahm die Kamera aus der Tasche, in die Alice sie immer zurücklegte, wenn sie die Objektive und beweglichen Teile gründlich gereinigt hatte. Er setzte das Teleobjektiv auf und richtete es auf den ersten Gegenstand, der ihm vor die Linse kam, den Schirmständer neben dem Eingang, vergrößerte dessen Rand, bis er völlig anders aussah, nämlich wie der Krater eines erloschenen Vulkans. Aber dann zögerte er.
    Er legte den Fotoapparat zurück, nahm sein Jackett, machte alle Lichter aus und verließ den Laden. Draußen verriegelte er das Rollgitter mit dem Vorhängeschloss und machte sich auf den Weg, aber nicht in die Richtung, die er sonst immer um diese Zeit einschlug. Ein einfältiges Lächeln stand ihm im Gesicht, das einfach nicht weichen wollte, und nach Hause zu gehen, dazu hatte er absolut keine Lust.
     
    Die Kirche war mit zwei riesengroßen Margeriten- und Callasträußen rechts und links vom Altar geschmückt sowie mit Dutzenden von Miniaturausgaben dieser Sträuße neben jeder Bank. Alice baute die Scheinwerfer auf und richtete den Aufhellreflektor ein. Sie setzte sich in die erste Reihe und wartete. Eine Frau ging noch mal mit dem Staubsauger über den roten Teppich, über den Viola in einer Stunde zum Altar schreiten würde. Alice dachte daran zurück, wie sie beide, Viola und
sie, sich damals auf das Geländer gesetzt und miteinander unterhalten hatten. An das Gespräch selbst erinnerte sie sich nicht, nur an den Ort, von dem aus sie Viola hingerissen angeblickt hatte, eine Stelle im Dunkeln, gleich hinter ihren Augen, ein Ort voller chaotischer Gedanken, die sie auch bei dieser Gelegenheit verborgen gehalten hatte.
    Binnen einer halben Stunde waren alle Bänke besetzt, und die Besucher, die weiter in die Kirche strömten, sammelten sich hinten, standen dicht an dicht und fächelten sich mit dem Gottesdiensttext Luft zu.
    Alice ging hinaus und wartete draußen vor der Kirche auf die Ankunft der Braut. Die hoch stehende Sonne wärmte ihr die Hände und schien sie zu durchdringen. Schon als kleines Mädchen hatte es ihr Spaß gemacht, sich im Gegenlicht die Handflächen mit den rotgeränderten geschlossenen Fingern anzuschauen. Einmal hatte sie ihrem Vater stolz das Phänomen gezeigt, woraufhin er ihre Fingerkuppen geküsst und so getan hatte, als wolle er sie aufessen.
    Viola fuhr in einem auf Hochglanz polierten grauen Porsche vor, und damit sie aussteigen konnte, musste der Fahrer ihr den sperrigen Schleier zusammenraffen. Alice knipste wie wild, nicht zuletzt, um ihr Gesicht hinter der Kamera zu verbergen. Als dann aber die Braut an ihr vorüberschritt, nahm sie den Apparat absichtlich runter und lächelte sie an.
    Es war nur ein Augenblick, den sie sich ansahen, aber Viola zuckte zusammen. Noch bevor Alice ihren Gesichtsausdruck erkennen konnte, war die Braut schon an ihr vorbei und betrat am Arm ihres Vaters die Kirche. Irgendwie hatte Alice sie größer in Erinnerung gehabt.
    Sie war darauf bedacht, sich keinen Augenblick entgehen zu lassen, schoss verschiedenste Nahaufnahmen des Brautpaars
und ihrer Familien, verewigte die ganze Zeremonie mit Ringwechsel, Treueversprechen und Kuss, die Kommunion, die Unterschriften der Trauzeugen … Sie war die Einzige in der ganzen Kirche, die sich ständig bewegte. Dabei kam es ihr so vor, als würde sich Viola, wenn sie sich zur ihr vorlehnte, leicht in den Schultern

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