Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
höchsten Punkt, und sie hätte den Blitz benutzen müssen, um all die Schatten wegzubekommen, die auf ihren Gesichtern lagen. Sie deutete auf eine Bank an der Uferpromenade, mitten in der Sonne.
»Setzt euch dort hin«, sagte sie.
Sie brauchte ungewöhnlich lange, um die Geräte aufzubauen, hantierte zum Schein mit dem Blitz herum, schraubte ein Objektiv auf und ersetzte es dann noch einmal durch ein anderes. Es dauerte, und Violas Ehemann lockerte sich die Krawatte, um besser Luft zu bekommen, während sie mit einem Finger auf den Schweißperlen herumtupfte, die ihr auf die Stirn traten.
Alice ließ sie noch ein wenig schmoren, indem sie so tat, als gelte es zunächst noch, nach der passenden Entfernung für die Aufnahmen zu suchen.
Endlich begann sie, den beiden in trockenem Ton Befehle zu erteilen. Umarmt euch, lächelt euch an, jetzt ernst, nimm ihre Hand, leg deinen Kopf auf seine Schulter, raune ihm etwas ins Ohr, schaut euch in die Augen, noch näher, weiter zum Wasser, zieh das Jackett aus. Crozza hatte ihr beigebracht, die Objekte nicht zu Atem kommen zu lassen, ihnen keine Zeit zum Nachdenken zu geben, denn ein kurzer Augenblick reichte schon, und die Spontaneität war dahin.
Viola gehorchte brav und fragte zwei, drei Mal mit ängstlicher Stimme: Ist es gut so?
»Okay, jetzt auf die Wiese«, befahl Alice.
»Was, sind das nicht längst genug Fotos?«, wunderte sich Viola. Die Röte ihrer erhitzten Wangen begann unter dem Make-up hervorzubrechen, der schwarze Eyelinerstrich um ihre Augen herum war schon völlig verwischt, und mit den
gezackten Rändern sah sie erschöpft und ein wenig vernachlässigt aus.
»Also, du tust jetzt so, als würdest du vor ihm davonlaufen, und er verfolgt dich über die Wiese«, erklärte Alice.
»Was? Ich soll rennen?«
»Ja, das musst du.«
»Aber …«, begann Viola zu protestieren und warf ihrem Mann einen Blick zu, doch der zuckte nur mit den Achseln.
Sie stöhnte auf, hob ihr langes Kleid ein wenig an und begann langsam zu laufen, wobei sich ihre Absätze ein paar Millimeter tief in den Rasen bohrten und Erdklümpchen hochwarfen, die auf ihr weißes Brautkleid rieselten. Der Bräutigam eilte hinter ihr her.
»Du musst schneller laufen«, rief er.
Viola fuhr herum und brachte ihn mit diesem Blick, an den sich Alice nur allzu gut erinnerte, zum Schweigen. Zwei, drei Minuten ließ sie die beiden über die Wiese traben, bis sich Viola irgendwann grob aus seinem Griff frei machte und rief: Jetzt reicht’s aber.
Auf einer Seite war ihre Frisur auseinandergefallen, eine Haarnadel hatte sich gelöst, und die Haare hingen ihr ins Gesicht.
»Ja«, antwortete Alice. »Jetzt noch die letzten Aufnahmen.«
Sie führte sie zu einem Kiosk am Ufer und kaufte dort zwei Zitroneneis am Stiel, von ihrem Geld.
»Hier, esst das«, erklärte sie, indem sie ihnen das Eis reichte.
Die beiden schauten verdutzt drein, gehorchten aber. Mit spitzen Fingern, um sich mit dem klebrigen Zuckerzeug nicht zu beschmieren, löste Viola das Papier.
Sie mussten so tun, als schleckten sie gemeinsam ihr Eis,
indem sie die Arme verschränkten und dem anderen vom eigenen anboten. Violas Lächeln wurde immer gequälter.
Als Alice sie dann aber noch aufforderte, sich an der Laterne aufzustellen und sich, an ihr festhaltend, im Kreis zu drehen, war es um Violas Geduld geschehen.
»Das ist doch Schwachsinn«, rief sie.
Ein wenig ängstlich blickte der Bräutigam sie an und schaute dann zu Alice, als wolle er sich entschuldigen. Sie lächelte.
»Das gehört aber zum klassischen Album, das ihr bestellt habt«, sagte sie. »Aber wenn ihr nicht wollt, können wir diesen Teil auch überspringen.«
Sie hatte Mühe, ernst zu bleiben, und spürte ihre Tätowierung heftig pulsieren, als wolle diese von der Haut abspringen. Wutentbrannt starrte Viola sie an, und Alice hielt ihrem Blick erbarmungslos stand, bis ihr die Augen brannten.
»Sind wir dann endlich fertig?«, fragte Viola.
Alice nickte.
»Komm, wir gehen«, forderte die Braut ihren Angetrauten auf.
Bevor er sich wegschleifen ließ, ging er noch einmal zu Alice und gab ihr artig die Hand.
»Danke«, sagte er.
»Keine Ursache.«
Alice sah ihnen nach, wie sie über die leicht ansteigende Wiese zum Parkplatz hinaufgingen. Um sie herum waren die vereinzelten Geräusche des Samstags, das Lachen von Kindern auf den Schaukeln und die Stimmen der Mütter, die auf sie aufpassten. In der Ferne, wie von einem Teppich gedämpft, hörte man auch Musik
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