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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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tröpfelte, über die Frage, wer denn heute Abend Philip ins Bett bringen würde, Dinge, die Mattia dort am Tisch plötzlich ungeheuer wichtig vorkamen.
    Ein erneutes Schweigen entstand, und er zwang sich zu überlegen, was er sagen könnte, etwas, das normal wirkte. Egal, wo er hinschaute, beherrschte Nadia, wie etwas zu Sperriges, sein Gesichtsfeld. Die blassblaue Farbe ihres tief ausgeschnittenen Kleides fokussierte seine Aufmerksamkeit, obwohl er jetzt sein leeres Glas anstarrte. Unter dem Tisch, durch die Tischdecke verborgen, waren ihre Beine, und, zu ungewollter Intimität gezwungen, stellte er sie sich vor, dort unten im Dunkeln.

    Jetzt kam Philip zu ihnen an den Tisch und stellte ein Spielzeug direkt vor ihn auf die Serviette. Mattia betrachtete den winzigen Maserati, sah dann zu Philip, der ihn seinerseits beobachtete und darauf wartete, dass er etwas damit anstellte.
    Zögerlich nahm er das Spielzeugauto zwischen zwei Finger und ließ es auf der Tischdecke hin und her fahren. Dabei spürte er Nadias aufmerksamen Blick auf sich gerichtet, der seine Verlegenheit maß. Mit dem Mund machte er ein schüchternes Brumm-Brumm dazu. Dann ließ er es bleiben. Philip sah ihn schweigend, leicht missmutig an, streckte den Arm aus, nahm das Auto wieder an sich und kehrte zu seinen Spielsachen zurück.
    Mattia goss sich Wein nach und trank ihn mit einem Zug aus. Sofort wurde ihm bewusst, dass er zunächst Nadia hätte anbieten müssen, und fragte: Möchtest du? Nein, nein, antwortete sie, indem sie die Hände zurückzog und die Schultern zusammenzog, wie wenn ihr kalt wäre.
    Alberto kehrte in den Raum zurück und ließ eine Art grunzendes Stöhnen vernehmen, während er sich mit den Händen kräftig übers Gesicht rieb.
    »Jetzt aber ab in die Heia«, sagte er zu dem Jungen. Wie eine Puppe hob er ihn am Kragen seines Polohemdes hoch.
    Philip sträubte sich nicht. Während er hinausgetragen wurde, warf er noch einen Blick auf seinen Berg Spielsachen am Boden, so als habe er etwas darunter versteckt.
    »Für mich wird’s auch langsam Zeit«, sagte Nadia, nicht direkt an Mattia gerichtet.
    »Für mich auch«, antwortete er.
    Beide spannten die Beinmuskeln an, wie um aufzustehen, doch es war ein Fehlstart. Sie blieben sitzen und schauten sich wieder an. Nadia lächelte, und Mattia fühlte sich durchbohrt
von diesem Blick, entblößt bis auf die Knochen, als könne er nichts mehr vor ihr verbergen.
    Fast gleichzeitig erhoben sie sich. Sie rückten die Stühle an den Tisch, und Mattia fiel auf, dass auch sie so umsichtig war, den Stuhl dabei leicht anzuheben.
    Als Alberto ins Zimmer zurückkam, standen sie beide stocksteif da.
    »Was ist denn los?«, rief er. »Wollt ihr schon gehen?«
    »Es ist spät, ihr seid bestimmt auch müde«, antwortete Nadia für sie beide.
    Alberto bedachte Mattia mit einem komplizenhaften Lächeln.
    »Ich bestell euch ein Taxi«, sagte er.
    »Ich nehm den Bus«, antwortete Mattia eilig.
    Alberto schaute ihn schief an.
    »Um diese Uhrzeit? So ein Unsinn«, sagte er. »Und Nadias Wohnung liegt ohnehin auf deinem Weg.«

34
    Zwischen gleichförmigen Mietshäusern ohne Balkone glitt das Taxi durch die leeren Straßen der Vorstadt. Nur in wenigen Fenstern sah man Licht. Im März waren die Tage immer noch kurz, und die Menschen stellten ihren Biorhythmus auf die Dunkelheit ein.
    »Die Städte sind hier düsterer«, sagte Nadia, die laut nachzudenken schien.
    Sie saßen an den beiden äußeren Enden der Rückbank. Mattia sah zu, wie die roten Felder auf dem Taxameter erloschen und sich wieder neue Zahlen bildeten.
    Wie einen lächerlichen Raum der Einsamkeit empfand Nadia diesen Abstand zwischen ihnen und suchte den Mut, ihn mit ihrem Körper auszufüllen. Ihre Wohnung lag nur noch wenige Blocks entfernt, und die Zeit verging so rasch, wie das Taxi den Weg zurücklegte. Aber es war nicht nur die Zeit an diesem Abend, die davonlief, es war die Zeit ihrer Lebenschancen, ihrer fast fünfunddreißig Jahre. Nach der Trennung von Martin im letzten Jahr nahm sie die Fremdheit dieser
Stadt stärker wahr, litt zunehmend unter der Kälte, die die Haut spröde machte und einen auch im Sommer nie richtig losließ. Und doch konnte sie sich nicht dazu entschließen, von hier fortzuziehen. Mittlerweile fühlte sie sich auch gebunden an diesen Ort, hing an ihm mit einer Hartnäckigkeit, mit der man sich nur an Dinge klammert, die einem wehtun.
    Wenn sich etwas ergeben sollte, dachte sie, so musste es in diesem Auto

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