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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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eingenommen von einem der großen Ohrringe, die sie trug: ein goldener Ring von mindestens fünf Zentimetern Durchmesser, der, wenn sie
sich bewegte, in eine komplizierte Schaukelbewegung verfiel, die er anhand der drei cartesianischen Achsen zu analysieren versuchte. Die Größe dieses Schmucks und der Kontrast, den er zu Nadias pechschwarzen Haaren bildete, ließen ihn an etwas Gewagtes, ja fast Obszönes denken, das ihn erschreckte und zugleich erregte.
    Sie setzten sich um den Tisch herum. Alberto schenkte allen ein Glas Rotwein ein und ließ sie mit einem feierlichen Trinkspruch auf den Artikel anstoßen, den sie bald veröffentlichen würden. So zwang er Mattia dazu, Nadia in einfachen Worten zu erklären, worum es sich dabei handelte. Mit einem unsicheren Lächeln, das andere Gedanken verriet und ihn wiederholt den Faden verlieren ließ, hörte sie ihm zu.
    »Klingt interessant«, bemerkte sie schließlich, und Mattia senkte den Kopf.
    »Das ist sehr viel mehr als interessant«, schaltete sich Alberto ein, indem er mit den Händen ein Ellipsoid beschrieb, das sich Mattia ganz plastisch, wie etwas Reales, vorstellte. Mit einer Suppenschüssel in den Händen, der ein intensiver Kümmelgeruch entströmte, betrat Albertos Frau das Zimmer. Und die Unterhaltung verlagerte sich auf ein neutraleres Thema - das Essen. Eine Anspannung, die ihnen gar nicht so bewusst gewesen war, schien jetzt nachzulassen. Alle, bis auf Mattia, trauerten irgendeiner Köstlichkeit nach, die man hier im Norden Europas nicht bekommen konnte. Alberto erzählte von den hausgemachten Ravioli seiner Mutter - als sie sich noch die Arbeit gemacht hatte. Seine Frau erinnerte sich wehmütig an den Meeresfrüchtesalat, den sie, in Studententagen, so gern gegessen hatten, in einem kleinen Restaurant. Und Nadia beschrieb die mit frischem Ricotta gefüllten und mit winzigen tiefschwarzen Schokoladensplittern besprenkelten
Cannoli, wie man sie in der einzigen Konditorei ihres kleinen Heimatdorfes bekam. Während sie die süßen Teigtaschen beschrieb, hielt sie die Augen geschlossen und zog die Lippen ein wenig nach innen, als könne sie sich auf diese Weise einen Rest dieses Geschmacks ihrer Kindheit bewahren. Dabei hielt sie die Unterlippe mit den Schneidezähnen fest und ließ sie dann los. Ohne es zu merken, starrte Mattia auf ihr Gesicht. Für ihn hatte sie etwas Übertriebenes, Nadias Weiblichkeit, diese fließenden Bewegungen ihrer Hände, dieser süditalienische Tonfall, mit dem sie die Labiallaute aussprach und häufig verdoppelte, ohne dass es nötig gewesen wäre. Eine obskure Kraft kam da zum Ausdruck, die sie in seinen Augen herabsetzte und ihm gleichzeitig die Hitze ins Gesicht trieb.
    »Man müsste nur den Mut aufbringen zurückzukehren«, schloss Nadia.
    Einige Sekunden lang schwiegen alle vier. Jeder schien über den Grund nachzudenken, der ihn hier festhielt. Nicht weit vom Tisch entfernt schlug Philip krachend ein paar Spielsachen gegeneinander.
    Alberto verstand es, ein zähes Gespräch das ganze Essen über in Gang zu halten, indem er selbst viel und lange redete und dabei immer fahriger mit den Händen über dem Tisch gestikulierte.
    Nach dem Dessert stand seine Frau auf und begann abzuräumen. »Bleib doch bitte sitzen«, sagte sie zu Nadia, die Anstalten machte, ihr zu helfen, und verschwand dann in der Küche.
    Sie schwiegen. Gedankenversunken fuhr Mattia mit dem Zeigefinger über die Klinge seines Messers, über die gezähnte Seite.
    »Ich schau mal, was sie in der Küche macht«, sagte Alberto,
indem er ebenfalls aufstand. Hinter Nadias Rücken warf er Mattia einen Blick zu, der wohl bedeuten sollte: Gib dir Mühe!
    Er und Nadia blieben mit Philip allein. Im selben Moment hoben sie den Blick, denn etwas anderes anzuschauen, gab es nicht, und beide lachten verlegen.
    »Und du?«, fragte Nadia nach einer Weile. »Warum hast du beschlossen, hierzubleiben?«
    Sie musterte ihn mit halbgeschlossenen Augen, als wolle sie ernsthaft sein Geheimnis ergründen. Ihre Wimpern waren lang und dicht und kamen Mattia zu starr vor, um echt zu sein.
    Er ließ davon ab, mit dem Zeigefinger die Krümel auf der Tischdecke zusammenzuschieben, und zuckte mit den Achseln.
    »Ich weiß nicht«, sagte er, »vielleicht weil ich das Gefühl habe, hier besser Luft zu bekommen.«
    Sie nickte nachdenklich und verständnisvoll. Aus der Küche drangen die Stimmen der Gastgeber zu ihnen, die über alltägliche Dinge redeten, über den Wasserhahn, der wieder

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