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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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Zeuge sein dieser x-ten kleinen Katastrophe in ihrem Leben, wollte sich deren Ablauf bewusst machen, doch binnen weniger Minuten kamen ihre Atemzüge regelmäßiger, und sie schlief ein.

37
    Mattia staunte, dass er noch Instinkte besaß, die unter dem feinen Netz aus Gedanken und Abstrahierungen, das er um sich herum gesponnen hatte, begraben lagen. Er staunte über die Gewalt, mit der diese Instinkte hervortraten, und wie sicher sie seine Handlungen steuerten.
    Umso schmerzlicher war daher die Rückkehr in die Realität. Nadias fremder Körper lag an den seinen gepresst. Die Berührung mit dessen Schweiß auf der einen Seite und dem faltigen Sofabezug mit ihrer beider zerknautschten Kleidern darauf auf der anderen schnürte ihm die Kehle zu. Sie atmete langsam, und Mattia dachte, dass es, wenn das Verhältnis zwischen den Perioden ihrer Atemzüge eine irrationale Zahl war, keinerlei Möglichkeit gab, sie zu kombinieren und eine Regelmäßigkeit zu finden.
    Weit öffnete er den Mund, ein Stück von Nadias Haaren entfernt, um mehr Sauerstoff zu bekommen, doch die Luft war gesättigt und schwer. Er hatte das Bedürfnis, sich zuzudecken, und drehte sich ein wenig, weil er spürte, dass sein
schlaffes, kaltes Geschlecht an Nadias Bein lag. Ungeschickterweise stieß er sie dabei mit dem Knie an. Nadia schrak auf und hob den Kopf.
    »Entschuldige, dass ich dich geweckt habe«, sagte Mattia.
    »Macht nichts.«
    Sie küsste ihn, und ihr Atem war zu heiß. Er rührte sich nicht, wartete nur, dass sie aufhörte.
    »Lass uns ins Schlafzimmer gehen«, sagte sie.
    Mattia nickte. Lieber wäre er in seine Wohnung gefahren, in sein komfortables Nichts zurückgekehrt, doch es war ihm klar, dass es nicht richtig gewesen wäre.
    Beide empfanden sie die Peinlichkeit und Unnatürlichkeit der Situation, als sie von den entgegengesetzten Seiten aus unter die Decke schlüpften. Nadia lächelte ihn an, wie um zu sagen: Es ist alles gut. Im Dunkeln kuschelte sie sich an seine Schulter, gab ihm noch einen Kuss und war bald schon wieder eingeschlafen.
    Mattia schloss ebenfalls die Augen, musste sie aber sogleich wieder öffnen, denn unter den Lidern versammelt wartete ein ganzer Schwall aufwühlender Erinnerungen auf ihn. Erneut schnürte es ihm die Luft ab. Er griff unters Bett und begann den Daumen an dem metallenen Bettgestell zu reiben, an dem scharfen Steg, der zwei Sprungfedern zusammenhielt. Im Dunkeln führte er den Daumen an den Mund und saugte daran, und einige Sekunden lang schaffte es der Geschmack des Blutes, ihn zu beruhigen.
    Nach und nach wurde er auf die fremden Geräusche in Nadias Wohnung aufmerksam: den Kühlschrank, der leise summte, die Heizung, die ein paar Sekunden rauschte und dann mit einem trockenen Tack des Heizkessels verstummte, die Uhr, die im Nebenzimmer tickte und ihm zu langsam
zu gehen schien. Er wollte seine Beine bewegen, aufstehen. Nadia lag jetzt in der Mitte des Bettes und nahm ihm den Platz, um sich umzudrehen. Ihre Haare pieksten ihn in den Hals, und ihr Atem trocknete ihm die Haut auf der Brust. So würde er kein Auge zumachen können. Es war schon spät, sicher schon nach zwei, und am nächsten Morgen hatte er eine Vorlesung zu halten. Er würde übernächtigt in der Uni erscheinen, an der Tafel würden ihm womöglich Fehler unterlaufen, mit denen er sich vor seinen Studenten blamierte. Bei sich zu Hause hingegen würde er schlafen können, zumindest die wenigen Stunden, die ihm noch blieben.
    Wenn ich ganz leise aufstehe, merkt sie gar nichts, dachte er.
    Noch eine Minute lag er reglos da und dachte über sein Vorhaben nach. Immer mehr schoben sich die Geräusche in den Vordergrund. Ein weiteres trockenes Klacken des Heizkessels ließ ihn zusammenschrecken, und da beschloss er endgültig, sich auf den Weg zu machen.
    Mit kurzen, vorsichtigen Bewegungen gelang es ihm, seinen Arm unter Nadias Kopf hervorzuziehen. Im Schlaf schien sie zu spüren, dass etwas fehlte, und bewegte sich ein wenig, um ihn zu suchen. Mattia wartete noch einen Moment und setzte erst den einen, dann auch den anderen Fuß auf den Boden auf.
    Als er aufstand, passte sich der Metallrahmen mit einem leisen Quietschen der geringeren Belastung an.
    Im Halbdunkel drehte er sich noch einmal zu ihr um und erinnerte sich dabei vage an den Moment, als er sich damals im Park von Michela abgewandt hatte.
    Barfuß schlich er ins Wohnzimmer, raffte seine Kleider auf
dem Sofa zusammen und hob seine Schuhe vom Boden auf. Lautlos wie immer,

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