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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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schloss er die Tür hinter sich, und als er im Flur stand, mit seiner Hose in der Hand, konnte er endlich richtig durchatmen.

38
    An dem Samstag, als die Sache mit dem Reis passiert war, hatte Fabio sie erst abends auf dem Handy angerufen. Alice fragte sich, warum er es nicht zunächst über den Festnetzanschluss versucht hatte, und überlegte dann, dass ihr Telefon zu Hause ein Gegenstand war, der ihnen beiden gehörte, und vielleicht war es ihm nicht recht, dass sie in dieser Situation etwas teilten. Ihr ging es genauso. Es war ein kurzer Anruf, trotz des langen Schweigens zwischendurch. Ich bleibe heute Nacht hier, teilte er ihr mit, eine bereits beschlossene Sache, worauf sie erwiderte: Meinetwegen kannst du auch morgen dort bleiben, bleib, solange du willst. Und nachdem diese lästigen Details geklärt waren, fügte Fabio hinzu: Ali, es tut mir leid, und sie legte auf, ohne zu sagen: mir auch.
    Sie ging nicht mehr ans Telefon. Fabios Drängen ließ bald schon nach, und in einem Anflug von Selbstmitleid sagte sie sich: Ich hab’s doch gewusst. Barfuß durch die Wohnung laufend, packte sie aufs Geratewohl einige Sachen von ihrem
Mann zusammen, Papiere und ein paar Kleider, verstaute sie in einer Kiste und stellte sie in den Eingang.
    Als sie eines Abends vom Einkaufen heimkam, war die Kiste fort. Viel mehr hatte Fabio nicht mitgenommen, die Möbel standen alle an ihrem Platz, und der Kleiderschrank war noch voller Sachen von ihm, nur in der Bücherwand im Wohnzimmer waren Lücken zwischen den Buchrücken entstanden, schwarze Löcher, die die beginnende Auflösung bezeugten. Alice stand davor und betrachtete sie, und dabei nahm die Trennung zum ersten Mal klare Konturen an, gerann zur massiven Konsistenz einer festen Form.
    Fast erleichtert ließ sie sich gehen. Sie hatte immer den Eindruck gehabt, sich für andere ins Zeug zu legen, doch jetzt gab es nur noch sie selbst, und sie konnte es einfach sein lassen, konnte sich geschlagen geben und fertig. Sie hatte jetzt mehr Zeit für die gleichen Dinge wie zuvor, fühlte sich aber so träge und erschöpft, als bewege sie sich in einer zähflüssigen Substanz. Schließlich kam sie auch den leichtesten Aufgaben nicht mehr nach. Die Schmutzwäsche türmte sich im Bad, während sie stundenlang auf der Couch lag, und obwohl sie sich bewusst war, dass die Sachen dort warteten, dass es nur eines kleinen Rucks bedurft hätte, schien das keinem ihrer Muskeln ein ausreichender Grund zu sein, sich in Bewegung zu setzen.
    Sie hatte sich eine Grippe als Vorwand ausgesucht, um nicht zur Arbeit gehen zu müssen, und schlief sehr viel mehr als nötig, auch tagsüber. Dazu ließ sie noch nicht einmal die Rollläden herunter, denn es reichte ihr, die Augen zu schließen, um die Helligkeit von sich fernzuhalten, um die Dinge, die sie umgaben, auszublenden und ihren verhassten Körper zu vergessen, der immer schwächer wurde, sich aber
weiterhin zäh ans Denken klammerte. Die Bürde der Konsequenzen war immer präsent, wie eine Unbekannte, die sie umfangen hielt. Sie wachte neben ihr, selbst wenn Alice in Schlaf fiel, einen schweren, traumgesättigten Schlaf, der immer mehr Züge einer Abhängigkeit bekam. Hatte Alice eine trockene Kehle, stellte sie sich vor, ersticken zu müssen. Kribbelte ihr ein Arm, weil er zu lange unter dem Kopfkissen gelegen hatte, war es ein Wolfshund, der ihn fraß. Waren ihre Füße kalt, weil sie nach dem Umdrehen außerhalb der Decke gelandet waren, fand sich Alice erneut, bis zum Hals im Schnee steckend, in jener Rinne wieder. Aber sie hatte keine Angst oder kaum. Sie war gelähmt und konnte nur die Zunge bewegen, aber die streckte sie aus, um vom Schnee zu kosten. Er schmeckte süß, und Alice hätte ihn gern ganz aufgegessen, konnte jedoch den Kopf nicht drehen. Und so lag sie nur da und wartete, dass die Kälte ihr die Beine hinaufkroch, ihren Bauch ausfüllte und von dort in die Adern ausstrahlte und ihr Blut gefrieren ließ.
    Beim Aufwachen war ihr Kopf voll wirrer Gedanken. Alice stand auf, wenn es nicht mehr anders ging, und nur langsam lichtete sich das Chaos des Halbschlafs und hinterließ milchig trübe Rückstände, wie Erinnerungsfetzen, die sich mit anderen Erinnerungen vermengten und nicht weniger wahr zu sein schienen. Lautlos wie ihr eigener Geist streifte sie durch die Wohnung und versuchte, ohne Eile, einen klaren Kopf zu bekommen. Ich verliere den Verstand, dachte sie manchmal. Aber das fand sie gar nicht schlimm. Im Gegenteil musste

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