Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
den Zeigefinger zu ihrem spitzen Beckenknochen, fuhr die scharfe Kante entlang, und als das Summen des Rasierapparats verstummte, schüttelte sie den Kopf und ging wieder in die Küche.
Sie würfelte eine Zwiebel und schnitt ein großes Stück Butter ab, das sie auf einem Tellerchen zur Seite stellte. All diese Dinge hatte Fabio ihr beigebracht, und sie hatte sich daran gewöhnt, Nahrungsmittel mit steriler Distanz zu handhaben, indem sie einfachen Handlungsanweisungen folgte, deren Endergebnis sie dann nicht anrührte.
Sie befreite den Spargel von dem roten Gummiband, das die Stangen zusammenhielt, spülte sie unter kaltem Wasser ab und legte sie auf ein Küchenbrett, bevor sie einen Topf mit Wasser füllte und aufsetzte.
Am Näherkommen leiser Geräusche spürte sie Fabios Anwesenheit im Raum. Gleich würde er sie berühren, und sie versteifte sich.
Doch er setzte sich nur aufs Sofa und begann zerstreut in einer Illustrierten zu blättern.
»Fabio«, rief sie, ohne genau zu wissen, was sie ihm sagen wollte.
Er antwortete nicht, blätterte betont geräuschvoll eine Seite um. Jetzt hielt er auf einer Seite inne, überlegte, ob er sie herausreißen sollte oder nicht.
»Fabio«, rief sie noch einmal, genauso laut wie vorher, drehte sich nun aber zu ihm um.
»Was ist denn?«
»Kannst du mir bitte mal den Reis runterholen, oben aus dem Schrank. Ich komm nicht dran.«
Es war bloß ein Vorwand, beide wussten das. Es war bloß eine andere Art, Komm zu mir zu sagen.
Fabio warf die Illustrierte auf den Sofatisch, gegen den aus einer halben Kokosnuss gefertigten Aschenbecher, der sich um die eigene Achse zu drehen begann. Die Hände auf den Knien saß Fabio ein paar Sekunden lang nur so da, als denke er noch darüber nach. Endlich erhob er sich mit einem Ruck und trat zur Spüle.
»Wo denn?«, fragte er unwirsch.
»Da!« Sie zeigte es ihm.
Fabio zog sich einen Stuhl neben den Kühlschrank, ließ ihn über die Keramikfliesen quietschen und stieg hinauf. Seine Füße waren nackt. Alice betrachtete sie, als wäre es zum ersten Mal, und fand sie attraktiv, doch auf eine seltsam abschreckende Art.
Er nahm die Reisschachtel zur Hand. Sie war bereits geöffnet. Er schüttelte sie, lächelte auf eine Arte, die Alice unheimlich fand. Er neigte die Packung, und wie ein feiner weißer Regen rieselten die Reiskörner zu Boden.
Alice riss die Augen auf. »Was machst du denn da?«
Fabio lachte.
»Hier hast du deinen Reis«, rief er.
Weit ausholend, schüttelte er die Packung, und die Körner verteilten sich in der ganzen Küche.
»Hör auf!«, fuhr sie ihn an, doch er reagierte nicht. Noch einmal rief sie, lauter nun.
»Weißt du noch? Wie bei unserer Hochzeit. Wie bei unserer verdammten Hochzeit«, schrie Fabio.
Sie packte ihn an einer Wade, damit er endlich aufhörte, aber er goss ihr den Reis über den Kopf. Einige Körner blieben in ihren glatten Haaren hängen, und sie rief noch einmal, er solle endlich aufhören.
Da sprang ihr ein Reiskorn ins Auge, es tat ihr weh, und mit geschlossenen Augen versetzte sie Fabio einen Schlag gegen das Schienbein. Er trat heftig aus, und dabei traf er sie mit dem Fuß knapp unterhalb der linken Schulter. Alices steifes Knie tat sein Möglichstes, um sie weiter zu tragen, schwang vor und wieder zurück, wie eine ausgehängte Achse, musste dann aber nachgeben, und sie fiel zu Boden.
Mittlerweile war die Reispackung leer. Mit dem Karton in der Hand, stand Fabio auf dem Stuhl und blickte mit offenem Mund auf seine Frau hinab, die wie eine Katze zusammengerollt am Boden lag. Mit der Gewalt eines Stromschlags durchfuhr ihn die Erkenntnis.
Er sprang vom Stuhl.
»Ali, hast du dir wehgetan?«, rief er. »Lass mal sehen.«
Er legte ihr eine Hand unter den Kopf, um ihr ins Gesicht zu schauen, doch sie entwand sich.
»Lass mich in Ruhe!«, schrie sie ihn an.
»Schatz, verzeih mir«, flehte er. »Hast du …«
»Hau ab!«, brüllte Alice mit einer Stimmkraft, die keiner der beiden für möglich gehalten hätte.
Fabio erstarrte. Seine Hände zitterten. Er wich zwei Schritte zurück, murmelte dann ein Okay und rannte ins Schlafzimmer. Kurz darauf erschien er schon wieder mit einem T-Shirt am Leib und Schuhen an den Füßen. Er verließ das Haus, ohne sich noch einmal zu seiner Frau am Boden, die sich nicht gerührt hatte, umzuschauen.
36
Alice strich sich die Haare hinter die Ohren. Die Tür des Hängeschranks über ihr stand noch offen, direkt vor ihr befand sich der Stuhl, ein
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