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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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unverhältnismäßig groß für das ungefähre Dutzend Studenten des achten Semesters, die seine Vorlesung in Algebraischer Topologie belegt hatten. Sie verteilten sich in den ersten drei Reihen, immer mehr oder weniger auf denselben Plätzen, und ließen einen Stuhl zum Nachbarn frei, gerade so, wie er es in seiner Zeit als Student auch getan hatte, doch in keinem von ihnen erkannte er etwas, das ihn an sich selbst erinnert hätte.
    Als er plötzlich hörte, wie sich in die Stille hinein die Tür am anderen Ende des Hörsaals öffnete, blickte er sich nicht um, bis er mit seiner Beweisführung fertig war. Er drehte die Seite mit seinen Notizen um, die er eigentlich gar nicht brauchte, und schob die Blätter wieder zusammen, und da
erst erkannte er eine neue Gestalt am oberen Rand seines Gesichtsfeldes. Er hob den Kopf und sah Nadia. Ganz in Weiß gekleidet, saß sie, die Beine übereinandergeschlagen, in der letzten Reihe. Sie grüßte ihn nicht.
    Mattia versuchte, seine Panik zu verbergen, und ging zur Erläuterung des nächsten Lehrsatzes über. Mittendrin verlor er plötzlich den Faden, sagte I’m sorry und suchte die entsprechende Stelle in seinen Aufzeichnungen, schaffte es aber nicht, sich aufs Neue zu konzentrieren. Die Studenten reagierten mit kaum hörbarem Gemurmel, denn seit Beginn der Vorlesungen hatten sie bei dem Professor kein einziges Mal auch nur ein Zögern bemerkt.
    Mattia setzte also noch einmal an und brachte die Sache auch zu Ende, wobei er so hastig schrieb, dass sich die Zahlen und Platzhalter, je weiter er dem rechten Tafelrand kam, immer stärker nach unten neigten. Die letzten beiden Passagen musste er in einer Ecke ganz oben zusammendrängen, weil unten kein Platz mehr war. Einige Studenten reckten sich vor, um die Hoch- und Tiefzahlen zu entdecken, die sich mit den Formeln darum herum vermengt hatten. Es war noch eine Viertelstunde bis zum Ende der Vorlesung, als Mattia sie mit einem Okay, I’ll see you tomorrow verabschiedete.
    Er legte die Kreide an ihren Platz und beobachtete, wie seine Studenten ein wenig verwundert aufstanden und, kurz die Hand zum Gruß hebend, den Raum verließen. Nadia saß noch auf ihrem Platz, in derselben Haltung wie zuvor, und niemand schien Notiz von ihr zu nehmen.
    Schließlich blieben sie allein zurück. Lichtjahre schienen sie voneinander entfernt zu sein. Nadia erhob sich in dem Moment, da auch er sich bewegte, um auf sie zuzugehen. So trafen sie sich ungefähr auf halbem Weg, hielten aber gut
einen Meter Abstand voneinander ein, als sie sich jetzt im Hörsaal gegenüber standen.
    »Ciao«, begann Mattia. »Ich wusste nicht …«
    »Pass auf«, unterbrach sie ihn, indem sie ihm entschlossen ins Gesicht schaute. »Wir wissen überhaupt nichts voneinander, und eigentlich gefällt es mir gar nicht, dass ich einfach so hier hereinplatze …«
    »Nein, du …«, versuchte er etwas zu erwidern, doch Nadia ließ ihn nicht dazu kommen.
    »Aber als ich aufgewacht bin, warst du fort … Du hättest doch wenigstens …«
    Sie hielt einen Augenblick inne, und Mattia war gezwungen, den Blick zu senken, denn seine Augen brannten.
    »Na ja, ist auch egal …«, fuhr Nadia fort. »Jedenfalls laufe ich niemandem mehr nach. Dazu habe ich keine Lust mehr.«
    Sie reichte ihm ein Kärtchen.
    »Das ist meine Telefonnummer. Solltest du dich dazu entschließen, sie einmal zu wählen, dann warte nicht zu lange.«
    Beide schauten zu Boden. Nadia machte Anstalten zu gehen, schaukelte leicht auf ihren Absätzen und drehte sich abrupt um.
    »Ciao«, sagte sie.
    Anstatt zu antworten, räusperte sich Mattia. Die Zeit, bis sie die Tür erreichen würde, war begrenzt, dachte er, und reichte nicht aus, eine Entscheidung zu treffen, einen Gedanken zu formulieren.
    Nadia blieb auf der Schwelle stehen.
    »Ich weiß nicht, was es ist«, sagte sie. »Aber du hast etwas, was mir, glaube ich, gefällt.«
    Dann ging sie hinaus. Mattia betrachtete das Kärtchen in seiner Hand, auf dem nur ein Name und eine Reihe von
Ziffern, größtenteils ungerade, standen. Er schob die Blätter auf dem Pult zusammen und steckte sie ein, wartete aber, bis die Stunde um war, bevor er den Raum verließ.
     
    Im Büro traf er Alberto an, der am Telefon war und den Hörer zwischen Kinn und Brustbein eingeklemmt hatte, um frei mit beiden Armen gestikulieren zu können. Er begrüßte Mattia, indem er die Augenbrauen hochzog.
    Als er aufgelegt hatte, lehnte er sich auf seinem Schreibtischsessel zurück und streckte

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