Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
sie sogar lächeln bei dem Gedanken, denn endlich war sie es, die es nicht anders wollte.
Abends aß sie Salatblätter, die sie direkt aus der Plastiktüte fischte. Sie waren knackig und bestanden aus nichts. Der einzige
Geschmack, den sie abgaben, war der von Wasser. Sie aß nicht, um sich den Magen zu füllen, sondern um das Ritual des Abendessens zu ersetzen und irgendwie die Zeit tot zu schlagen. Sie aß Salat, bis ihr davon übel wurde.
Sie leerte sich von Fabio und von ihren eigenen sinnlosen Bemühungen, zu diesem Punkt zu gelangen, wo, wie sie jetzt feststellte, nichts als Leere war. Mit distanzierter Neugier beobachtete sie das Wiederaufleben ihrer alten Schwächen, ihrer Neurosen. Und diesmal würde sie diesen die Entscheidungen überlassen, sie selbst hatte ja nichts zuwege gebracht. Gegen gewisse Seiten ihres Wesens war sie eben machtlos, sagte sie sich, während sie sich in jene Zeiten zurückfallen ließ, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war. In die Zeit, als Mattia fortgezogen und kurz darauf auch ihre Mutter gegangen war, zwei Abschiede, zwei verschiedene Wege, die beide weit fort von ihr führten. Mattia. Ja, an ihn dachte sie häufig. Wieder einmal. Auch er war so etwas wie eine ihrer Erkrankungen, eine Erkrankung, von der sie nicht geheilt werden wollte. Man kann auch nur an einer Erinnerung erkranken, und sie war erkrankt an jenem Nachmittag im Auto vor dem Park, als sie sein Gesicht mit ihrem Gesicht verdeckt hatte, um ihm den Blick auf den Schauplatz des Grauens zu nehmen. So sehr sie sich auch anstrengte, konnte sie aus all den gemeinsamen Jahren mit Fabio kein einziges Bild herausfiltern, das ihr Herz so stark bewegte, ein Bild, das eine solch mitreißende Gewalt der Farben besaß und das sie noch so sehr spürte, auf der Haut und an den Haarwurzeln und zwischen den Beinen. Gewiss, es hatte auch dieses Abendessen bei Riccardo und dessen Frau gegeben, bei dem sie viel gelacht und getrunken hatten, und während sie Alessandra beim Spülen half, hatte sie sich den Daumen an einem Glas aufgeschnitten, das ihr
zwischen den Händen zerbrochen war. Als sie es fallen ließ, hatte sie Aua gerufen, nicht laut, fast geflüstert, doch Fabio hörte sie und kam herbeigelaufen. Unter der Lampe schaute er sich ihren Daumen an, beugte sich dann vor, führte ihn an die Lippen und saugte ein wenig von dem Blut auf, um den Fluss zu stoppen, so als wäre es sein eigenes. Mit dem Daumen im Mund sah er sie von unten herauf an, mit seinen klaren Augen, deren Blick Alice nicht standhalten konnte. Dann schloss er seine Hand um die Wunde und küsste sie auf den Mund. Und sie hatte in seinem Speichel ihr eigenes Blut geschmeckt und sich vorgestellt, dass es den ganzen Körper ihres Mannes durchflossen hatte, um dann, gereinigt wie in einer Dialyse, wieder zu ihr zu gelangen.
Diese Episode hatte es gegeben, und noch unzählige weitere, die Alice vergessen hatte, denn die Liebe eines Menschen, den wir nicht lieben, setzt sich nur auf der Oberfläche ab, wo sie rasch verdampft. Was jetzt blieb, war eine zarte Rötung, fast unsichtbar auf ihrer angespannten Haut, an der Stelle, wo Fabios Fuß sie getroffen hatte.
Manchmal, vor allem abends, dachte sie zurück an Fabios Worte. Ich kann so nicht weiter . Sie streichelte sich über den Bauch und stellte sich vor, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn dort drinnen ein Wesen wäre, das in der kühlen Flüssigkeit umherschwamm. Erklär mir, was da los ist . Aber da gab es nichts zu erklären. Es gab keinen Grund oder nicht einen allein. Und es hatte auch nicht irgendwann angefangen. Sie war eben so, und in ihrem Bauch wollte sie niemanden haben.
Vielleicht sollte ich ihm genau das sagen, dachte sie.
Und so nahm sie ihr Handy zur Hand und ging das Telefonbuch bis zum F durch. Mit dem Daumen fuhr sie über die Tastatur, fast so, als hoffe sie, den Anruf versehentlich auszulösen.
Dann drückte sie auf die rote Taste. Fabio wiedersehen, mit ihm reden, erklären …, wie eine übermenschliche Anstrengung kam ihr das vor, und sie wollte lieber einfach nur dasitzen und zuschauen, wie die Staubschicht auf den Wohnzimmermöbeln von Tag zu Tag dicker wurde.
39
Mattia schaute seine Studenten fast nie an. Kreuzte er die Blicke ihrer hellen Augen, die auf ihn und die Tafel gerichtet waren, fühlte er sich entblößt. Präzise, in allen Einzelheiten kommentierte er die Berechnungen, die er anschrieb, als würde er sie auch noch einmal sich selbst erklären. Der Hörsaal war
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