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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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die Beine aus.
    »Na, ist wohl spät geworden heute Nacht?«, fragte er mit einem wissenden Lächeln.
    Mattia vermied es, ihn anzuschauen, und zuckte nur mit den Achseln. Alberto stand auf, trat hinter Mattias Stuhl und begann, ihm wie ein Betreuer seinem Boxer die Schultern zu lockern. Mattia mochte es nicht, wenn er angefasst wurde.
    »Verstehe. Du willst nicht drüber reden. Alright then , wechseln wir das Thema. Ich hab mir schon mal einen Entwurf für unseren Artikel einfallen lassen. Könntest du einen Blick draufwerfen?«
    Mattia nickte. Sachte tippte er mit dem Zeigefinger auf der 0-Taste des Computers herum, während er darauf wartete, dass Alberto die Hände von seiner Schulter nahm. Wie schwache Blitze schossen ihm einige Bilder, immer dieselben, der letzten Nacht durch den Kopf.
    Alberto kehrte auf seinen Platz zurück, ließ sich auf den Sessel plumpsen und machte sich daran, aus einem Stapel kreuz und quer liegender Blätter den Artikel herauszusuchen.
    »Ach, warte«, sagte er plötzlich, »hier ist ein Brief für dich.«
    Er warf Mattia einen Umschlag auf den Schreibtisch. Der betrachtete ihn, ohne ihn zur Hand zu nehmen. Mit dicker
blauer Tinte, die mit Sicherheit das Papier durchdrungen hatte, waren sein Name und die Anschrift der Universität geschrieben. Das M von Mattia begann mit einem geraden Aufstrich und ging, leicht abgesetzt, in einen weichen konkaven Bogen über, der in den wiederum geraden Abstrich mündete. Die beiden t waren durch einen einzigen waagerechten Strich verbunden, und alle Buchstaben standen ein wenig schräg, zusammengedrängt, als wären sie seitlich aufeinander gefallen. In der Anschrift steckte ein Fehler, ein c vor dem sh war zu viel. Ein einziger dieser Buchstaben hätte Mattia genügt, ja schon die Asymmetrie der beiden bauchigen Bögen des B in Balossino , um auf Anhieb Alices Handschrift zu erkennen.
    Er schluckte und tastete nach dem Brieföffner, der an seinem Platz in der zweiten Schublade lag. Nervös drehte er ihn zwischen den Fingern hin und her und steckte ihn dann unter die Lasche des Briefumschlags. Seine Hände zitterten, und um dieses Zittern zu unterdrücken, schloss er die Faust noch fester um den Griff.
    Alberto beobachtete ihn von der anderen Schreibtischseite aus, wobei er so tat, als finde er die Blätter nicht, die allerdings bereits vor ihm lagen. Auch auf diese Entfernung war Mattias Zittern zu erkennen, doch die Karte selbst, die in dem Umschlag gesteckt hatte, war hinter seiner Hand verborgen.
    Alberto sah, wie sein Kollege einige Sekunden lang die Augen schloss, sie dann wieder öffnete und sich, verwirrt und plötzlich weit entfernt, umschaute.
    »Wer schreibt dir denn?«, fragte Alberto geradeheraus.
    Mattia sah ihn irritiert an, als kenne er ihn plötzlich gar nicht mehr, und stand dann auf, ohne auf die Frage einzugehen.
    »Ich muss fort«, sagte er.
    »Was?«
    »Ich glaube, ich muss fort … nach Italien.«
    Alberto stand ebenfalls auf, so als wolle er ihn daran hindern.
    »Was redest du denn da? Was ist passiert?«
    Unwillkürlich lehnte er sich vor und versuchte erneut, auf die Karte zu schielen, doch Mattia hielt sie wie etwas Geheimes zwischen seiner Hand und der kratzigen Wolle seines Pullovers verborgen. Drei der vier Ecken ragten zwischen seinen Fingern hervor und ließen auf eine quadratische Form schließen, mehr aber auch nicht.
    »Gar nichts. Ich weiß es nicht«, erwiderte Mattia, mit einem Arm bereits im Ärmel seines Blousons. »Jedenfalls muss ich fort.«
    »Und was ist mit dem Artikel?«
    »Den schau ich mir an, wenn ich zurück bin. Mach du einfach schon mal weiter.«
    Damit verließ er das Büro, ohne Alberto die Zeit zu weiteren Protesten zu geben.

40
    An dem Tag, als Alice erstmals wieder arbeiten ging, kam sie fast eine Stunde zu spät in den Laden. Noch im Halbschlaf hatte sie den Wecker ausgeschaltet, und als sie sich dann später fertig machte, musste sie immer wieder innehalten, weil jede Bewegung für ihren Körper eine unerträgliche Anstrengung bedeutete.
    Crozza machte ihr keinen Vorwurf. Er brauchte ihr nur ins Gesicht zu schauen und wusste, was los war. Alices Wangen waren hohl, und obwohl ihre Augen zu stark aus dem Gesicht hervorzutreten schienen, wirkte ihr Blick abwesend, wie von einer düsteren Lethargie verschleiert.
    »Entschuldige die Verspätung«, sagte sie, als sie eintrat, aber ohne die Absicht, sich tatsächlich zu entschuldigen.
    Crozza schlug die Zeitungsseite um und konnte es nicht lassen,

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