Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Einsamkeit des Chamäleons

Die Einsamkeit des Chamäleons

Titel: Die Einsamkeit des Chamäleons Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Holland Moritz
Vom Netzwerk:
noch zwei Wochen Zeit. Das International Tribal Art Magazine lag aufgeschlagen auf dem Küchentisch, doch Rebekka blätterte immer nur lustlos darin herum, denn ihre Gedanken waren woanders.
    Ulrike hatte also den gleichen Verdacht wie Rebekka. Nur mit einem Unterschied: Rebekka war aufgrund ihres Statistikfimmels auf die Traueranzeigen gestoßen. Sie hatte Mark darauf aufmerksam gemacht. Und der hatte ihr die Information zum Tod von Karl-Heinz Otto gegeben, ohne Details zu verraten. Alles in allem war sie Ulrike mehr als eine Nasenlänge voraus, bewunderte aber den Mut dieser jungen Frau, der aus einem Verdacht ganz schnell eine Verdächtigung machen und Thorsten Milchmeyer ziemlich dumm dastehen lassen könnte. Rebekka würde etwas mehr auf Ulrike aufpassen müssen, bevor sie mit ihrem Temperament ein Feld umpflügte, das es erst noch zu bestellen galt. Vater und Tochter hatten knapp ein Jahr in der Firma zusammengearbeitet. Von den vorangegangenen Todesfällen in der Firma schien Ulrike nichts zu wissen. Umso erstaunlicher schien es Rebekka nun, dass Ulrike hinter dem Tod eines älteren Mannes, der ihr Vater nun mal war, einen Mord vermutete. Sie hatte kurz nachgehakt und gespürt, dass Ulrike es im selben Moment bereute, ihren Verdacht ausgesprochen zu haben, den sie offensichtlich bisher wie einen Schatz gehütet hatte. Nun war der Pfeil verschossen, und Ulrikes einziger Wunsch war es, ihn wieder zurückzuholen. Das Gespräch der beiden Frauen hatte danach eine andere Richtung genommen, Ulrike sich von Rebekka verabschiedet und war davon geradelt, ohne sich noch einmal umzusehen.
    Wenn Sie abnehmen und endlich eine gute Figur haben wollen, dann essen Sie weniger und treiben Sie Sport!
    Gehorsam zog Rebekka ihre Sportschuhe an. Ein lockerer Lauf auf dem Acker zusammen mit Sting sollte ihre Gedanken ordnen. »A thousand years, a thousand more, a thousand times a million doors to eternity, I may have lived a thousand lives, a thousand times, an endless turning stairway climbs, to a tower of souls …«
    Doch schon bei den ersten Schritten und Klängen spürte Rebekka, dass sich die Entspannung diesmal nicht einstellen wollte. Thorsten Milchmeyers aalglatter Auftritt ging ihr nicht aus dem Kopf, und sie wusste, dass es Zeit war, ihm einen Besuch abzustatten.
    Mark hatte Rebekkas Verdacht einer Mordserie bei Recycling, Verschrottung und Co . bestätigt. Ulrike war der Meinung, ihr Vater sei ermordet worden. Thorsten Milchmeyer hatte seine gezeigte Trauer zu dick aufgetragen. Von einer Anzeigenserie auf eine Mordserie zu schließen, barg schon jede Menge kranker Fantasie in sich. Das wusste Rebekka, und es ließ sie nicht kalt. Sie hatte ihr Vertrauen in die Welt verloren, was Rebekka jedoch nicht zu einem pessimistischen Menschen machte. Im Gegenteil: Ihr vorausschauendes Denken und die Gabe, immer das Gute hinter der nächsten Straßenecke zu vermuten, gaben ihr nicht nur Sicherheit, sondern waren ein gesundes Gegengewicht zu ihrer verborgenen Seite. Die lebte sie als das Chamäleon aus, das sie war. Die Welt da draußen hielt sie nicht für schlecht per se , aber in dieser Welt lebten Monster, und der Weg eines Menschen zum Monster war kein Weg, sondern nur ein Moment. Ein kleiner Auslöser wie ein Wort, eine Berührung oder ein Blick konnten einen Menschen auf einen anderen einschlagen, stechen, schießen, treten oder hacken lassen, und aus einem Minuten zuvor noch funktionstüchtigen Körper aus Intelligenz, Gefühlen, Ernährung und Sex einen blutigen Haufen Gliedmaßen, Sehnen und Knochen machen, aus dem die Augen hervorquollen, die eben noch in die Welt schauten. Das war die Welt, in der Rebekka lebte, und es waren nicht die Schauplätze Kongo oder Irak, sondern die Orte Alexanderplatz und Sonnenallee in Berlin. Vor dem Hintergrund all dessen, was sich täglich in dieser Stadt abspielte, konnte Rebekka gar nicht schlecht genug von den Menschen denken, denn diese erfanden ihre Brutalitäten selbst, schlimmer, als es ein Schriftsteller herbeifantasieren konnte.
    Â» If it takes another thousand years, a thousand wars, the towers rise to numberless floors in space, I could shed another million tears, a million breaths, a million names but only one truth to face … «
    Ihre Laufschritte wurden schwerer auf dem schmalen Feldweg mit Abdrücken von Hufeisen und Fahrradreifen. Sie drehte sich um, lief rückwärts weiter,

Weitere Kostenlose Bücher