Die Einsamkeit des Chamäleons
unserem Interview gehört, aber ich antworte Ihnen gern: Ich habe ihn gefunden.«
Milchmeyer schien zu vergessen, dass er in Rebekka eigentlich eine Fremde vor sich hatte. Der Morgen des Todesfalls holte ihn ein. Er wirkte noch immer berührt, als wäre es eben erst geschehen und nicht schon Wochen her.
»Als der Arzt den Tod feststellte, musste ich Ulrike und Jörn nach drauÃen schicken. Ich wusste ja nicht, dass die sich auf dem Hof gleich die Kante geben würden. Und das am frühen Morgen!«
»Und er ist an Hirnblutungen gestorben?«, hakte Rebekka nach.
Das Eisen schmieden, solange es heià ist. Wo geht das besser als hier in der Metallaufbereitung.
»Sie sind ja gut informiert.«
Milchmeyer musterte sie nun mit unverhohlenem Misstrauen.
»Und Sie sagten, Sie seien die Tochter einer Freundin von Karl-Heinz Otto?«
»Okay, eins zu null für Sie. Bekomme ich trotzdem meine Antwort? Auch als Tochter der Freundin darf ich das wissen.«
»Seltsam, Ihr Interesse, aber lobenswert.«
Er wandte seinen Blick wieder zur Werkhalle.
»Ja. Hirnblutung.«
»Wer hat das gesagt?«
»Unser Betriebsarzt vor Ort.«
»Sicher?«
»Ãh, ja. Was haben Sie? Was ist daran so ungewöhnlich?«
»Das kann ich Ihnen sagen.«
Rebekka steckte ihr Notizbuch samt Füller in die Tasche.
»Dass Ihr Betriebsarzt eine Hirnblutung feststellen kann, ist ungewöhnlich. Oder hat er immer ein CT-Gerät in seinem Köfferchen?«
Milchmeyer hielt ihr die Hand zum Verabschieden hin.
»Sie wissen, wo das Interview endet. Und wenn Sie es nicht wissen, wird es mein Anwalt mit Ihnen zusammen noch einmal durchgehen. Eine Kopie vor Abdruck auf meinen Tisch. Auf Wiedersehen, Frau Schomberg.«
Damien Hirst sprüht Haie auf Hauswände. Thorsten Milchmeyer malt Pferdeköpfe auf Notizblöcke. Ab wann ist was Kunst?
»Auf Wiedersehen, Herr Milchmeyer.«
Kapitel 33
Wenn Sie glauben, zu viel zu erledigen zu haben und den Ãberblick zu verlieren, dann schreiben Sie sich morgens eine Liste und haken Sie alles bis abends ab.
In den folgenden Wochen dieses wärmenden Berliner Frühlings arbeitete Rebekka wie besessen an ihrer Recherche zur Otto-Familie und den anderen Toten in der Recyclingfirma.
Dabei hielt sie sich fern von Ulrike und auch von Erik, der sie bereits zweimal angerufen hatte. Erik und Ingrid erinnerten an ihre Einladung zum Essen. Rebekka bedankte sich, schob berufliche Verpflichtungen vor und versprach, sich zu melden. Bei Ulrike fiel ihr das schwerer. Die junge Frau hatte in Rebekka wohl die mütterliche Freundin gefunden, die ihr seit dem Tod der eigenen Mutter fehlte, und sie machte daraus keinen Hehl.
Rebekka musste fokussiert arbeiten, sehr konzentriert sein, um das Ergebnis ihrer eigenen Ermittlungen nicht zu gefährden. Aber das war es nicht allein, was Rebekka davon abhielt, die Bindung zu ihren neuen Freunden zu vertiefen.
Die Zeit war gekommen, das wusste sie, und sie starrte in diesen Tagen noch ängstlicher als sonst auf den kleinen Bildschirm ihres Laptops, auf dem in einem flimmernden Rahmen aus Werbung die Nachrichten aus Frankreich liefen. Jedes Jahr fuhr Rebekka mindestens ein Mal nach Tulle, an den Ort des Geschehens. 64 Jahre war es her, dass sich ihr GroÃvater dort genauso in die Familie Taubman hinein gemogelt hatte wie Rebekka sich nun in die Familie Otto. Seine Beweggründe waren andere gewesen. Und er hatte nichts von einem Chamäleon gehabt, sondern eine Uniform getragen.
Rebekka schloss sich in ihrem Zimmer ein und saà dort den ganzen Tag am Laptop. Freddy hatte ihr einen Wasserkocher zur Verfügung gestellt, eine Schüssel und zwei chinesische Essstäbchen. Auf der Kommode an der Wand stand neben dem vor sich hin brodelnden Topf ein Karton, randvoll mit verschiedenfarbigen Quadraten chinesischer Nudelsuppen in den Geschmacksrichtungen Krabbe, Schwein, Rind und vegetarisch. Der Inhalt aus gepressten Hartweizennudeln und in Plastik geschweiÃten Fett- und Aromazusätzen sah alles andere als vertrauenerweckend aus. Für Rebekka jedoch waren diese Suppen seit Jahren eine Nervennahrung, bei der sich besonders gut meditieren, Farbe wechseln und nachdenken lieÃ. Eine Käsescheibe als Krönung auf dem heiÃen Gebräu, und ihre Welt â wo auch immer diese gerade lag â war in Ordnung.
Freddy hatte ihr eine Pinnwand gebracht, die nun auf dem Schreibtisch
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