Die Einsamkeit des Chamäleons
Rebekka nicht aus den Augen lieÃ. Auch sie nahm Haltung an, innerlich und äuÃerlich. So war sie jeden Moment bereit, mit dem Wissen, das ihr keiner mehr nehmen konnte, mit der Vermutung, die sie seit dem Besuch im Hilfswerk vor sich hergeschoben hatte wie eine unlösbare Aufgabe, aufzuspringen und hinauszulaufen.
»Wollen Sie eine?«, fragte Milchmeyer und reichte ihr eine Zigarettenschachtel.
»Nein danke.«
Er lehnte sich entspannt nach hinten und öffnete mit einer Hand das Fenster. Dämmerung legte sich über die Stadt, über die Sternenkinder und die Brüder Grimm.
»Ich weiÃ, was Sie damit sagen wollen. Doch die Arbeit, die diese Menschen verrichten, die machen in anderen Firmen ganz normale Angestellte, und âºnormalâ¹ soll hier heiÃen: solche, die nicht aus der Gosse kommen.«
Rebekka spürte, dass sie hier am Ort des Geschehens saà und ihr Instinkt sie nicht getäuscht hatte. Es gab genau zwei Möglichkeiten: Hier waren Menschen entsorgt worden, nachdem sie einen Knochenjob erledigt hatten, der mit dem tatsächlich groÃen Wert des Materials nicht zu vereinen war. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie zu entlassen, also musste ein weiterer Gedanke dahinter stecken. Doch Recycling, Verschrottung & Co. bot auch die Vernichtung von Akten an.
»Werden hier auch Akten geschreddert?«
»Ja. Was genau wollten Sie dazu wissen?«
»Sind es Akten von Firmen oder Behörden oder â¦Â«
»Vom Krankenhaus bis zum Knast ist alles dabei.«
Rebekka überlegte kurz. Es war ein Pfad, den sie hatte gehen wollen, und der hätte sie in Richtung von Anneliese und Karl-Heinz Otto sowie eine wahrscheinlich kiloschwere Stasiakte gebracht. Doch während sie hier saà und Milchmeyer beim Rauchen zusah, verwarf sie ihre Vermutung. Karl-Heinz Otto konnte sowohl seine eigene als auch die Stasiakte seiner Frau beantragt haben. Die Originale lagen definitiv in der Karl-Liebknecht-StraÃe in Berlin und dort unter gutem Verschluss. Das Interesse der Bevölkerung an ihrer Vergangenheit war so groà geworden, dass in Berlin eine Pilotanlage in Betrieb genommen wurde, bei dem der Inhalt von 400 Schnipsel-Säcken elektronisch wieder zusammengesetzt werden sollte. Und was auch immer sonst noch wo verborgen lag von ihm, dem groÃen Forscher der DDR-Müllwirtschaft, konnte er zwar hierher zu Recycling, Verschrottung & Co. dirigiert haben, aber auch dieser Umstand genügte Rebekka nicht, sich ein Mordmotiv zu erklären. In welche Richtung Rebekka auch dachte: Karl-Heinz Ottos Tod passte nicht zu den anderen Todesfällen.
»In welcher Form kommen die Akten hier an?«
Nun grinste Milchmeyer breit, als habe er Rebekka beim Schummeln erwischt.
»Soll das alles mit ins Interview?«
»Nein, ich schreibe nicht mehr mit, wie Sie sehen.«
»Dann ist es ja gut. Alles darf ich Ihnen nämlich auch nicht verraten. Auch in meiner Branche gibt es Betriebsgeheimnisse.«
Rebekka nickte zögernd. Hier gab es erst mal kein Weiterkommen.
»Aber ich kann Sie entschädigen. Indem ich einen kleinen Rundgang mit Ihnen mache.«
»Gut!«
Sie trank ihr Glas leer und stand auf.
Milchmeyer blieb sitzen.
»Und unser Interview? Das warâs dann schon?«
Lächelnd griff Rebekka nach ihrem Notizbuch.
»Im Gegenteil. Sie führen mich rum und reden einfach weiter.«
Beim Hinausgehen fiel Rebekkas Blick auf Milchmeyers Schreibtisch, und es war ein kleines Detail, das sie sich unwillkürlich einprägte.
Unten auf dem Hof standen einzelne Grüppchen von Arbeitern beim Rauchen. Milchmeyer grüÃte im Vorbeigehen und wirkte wie ein gern gesehener Chef. Er überragte Rebekka um mindestens zwei Köpfe und lief so schnell, dass sie sich wie ein Schulmädchen fühlte, das trippelnd seinem Lehrer hinterher hechelte.
Vor einer offen stehenden Tür, die in eine Art Lagerhalle führte, blieb er plötzlich stehen. Auf einer Werkbank stand ein Strauà weiÃer Rosen in einer Vase.
»Hier, an dieser Stelle, ist Karl-Heinz Otto gestorben.«
Milchmeyer legte die Hände ineinander, während er das sagte. Rebekka stand einen stillen Moment lang neben ihm, wie in Trauer vereint, und doch waren beide in Gedanken bei viel bewegteren Dingen als einem Toten, der mittlerweile unter der Erde lag.
»Wer hat ihn eigentlich gefunden?«, fragte Rebekka.
»Ich glaube nicht, dass diese Frage zu
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