Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten
gebracht. »Da war nichts, was hätte misstrauisch machen können«, fügte sie hinzu. Doch tatsächlich geschah etwas anderes. Nûna lag die ganze Nacht auf ihrem Bett in der Küche, ohne ein Auge zuzumachen. Sie starrte an die Decke und blickte von Zeit zu Zeit zum Fenster hinüber, hinter dem das Schulgebäude hoch aufragte, darüber ein kleines Stückchen Himmel, an dem die Sterne tanzten. Kummer zermalmte und zermahlte ihr Herz. Nein, sie wollte nicht mehr zurück ins Dorf, sie wollte wirklich nicht mehr zwischen Dreck und Flöhen und Mücken leben; und sie wollte wirklich nicht heiraten, um, wie ihre Schwester, mit Gewalt beackert zu werden. Und die ganze Nacht über flossen aus ihren Augen Meere von Tränen, während sie wach lag bis zum Morgengrauen. Sie sah noch den fahlen Himmel und das schwarze Eisen am Fenster, doch als die Herrin sie rief, aufzustehen und Brot holen zu gehen, hatte der Schlaf sie überkommen. Sie träumte von der Schule und von den Mädchen und sah im Traum den Sohn des Herrn Offizier, der sie heftig schlug, weil er die Quadratwurzel von fünfundzwanzig nicht kannte. Sie sah auch die »Flanken« – etwas sehr Schönes, vielleicht vom Menschen, vielleicht vom Dschinn. Es war etwas Weisses, weiss wie gekämmte Baumwolle, und hatte zwei Flügel in Regenbogenfarben, an denen Nûna hing. Die Flanken flogen immer weiter weg mit ihr, fort von der Küche, vom Dorf, von den Menschen, bis in den Himmel. Sie sah die Sterne ganz nahe. Fast konnte sie sie berühren.
Alle, die Nûna am Morgen jenes Tages gesehen hatten, erinnerten sich an den seltsamen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Das sagten übereinstimmend sowohl der HerrOffizier als auch seine Frau, die ausserdem versicherten, ihr Blick sei vollkommen unnatürlich gewesen, als sie ihm, dem Herrn Offizier, beim Weggehen die Zigarettenschachtel reichte und als die Herrin sie aufforderte, sich das Kopftuch anzuziehen, bevor sie Brot holen ging. Die Frau des Herrn Offizier lachte lange, als sie ihren Freundinnen, mit denen sie im grossen Salon zusammensass, die Geschichte mit Nûna erzählte. »Hab ich’s euch nicht immer schon gesagt«, schloss sie, »sie war irgendwie übergeschnappt, völlig gestört. Wie es um ihre Schwester steht, nun, da kann ich noch nichts sagen.«
Eine Frau auf dem Gras
1. Die Frau, der Junge und der Hund
Sie kamen mitten aus dem Friedhof, von dort, wo die Lebenden auf den Toten wohnen – die Frau mit ihrem Sohn, der Sohn mit seinem Hund.
Sie trug einen am Rand verrosteten Blechteller, der mit gelben Lupinenkernen gefüllt war, und liess ihren Blick über den weiten Platz wandern, um ein Grasfleckchen zu finden, das ihr als Standort brauchbar erschien, als geeignete Stelle, um von möglichen Kunden gesehen zu werden.
Der Junge, ihr Sohn, trug Schuhtrümmer, die neben jedem seiner Füsse noch einem weiteren Fuss Raum geboten hätten. Er begann, einen Trupp Ameisen auf ihrem Leichenzug für einen Mistkäfer zu verfolgen.
Der Dritte im Bunde, der Hund, reckte seinen Kopf nach oben, schnupperte in der Luft herum und richtete den Blick vorwurfsvoll auf einen Milan, der, einen kleinen Vogel in den Klauen, am Himmel kreiste.
Die Frau liess sich auf einer erhöhten Stelle am Fusse eines Baumes nieder, der mit seinem fallenden Herbstlaub die Erde bedeckte. »Vorboten des Winters«, flüsterte sie zu sich selbst, als ein kühler Wind ihr bis an die Knochen drang.
2. Der alte Geheimpolizist sorgt sich um seine Arbeit
Von der anderen Seite der Strasse, die die Stadt der Lebenden von der Stadt der Toten trennt, kam mit schweren Schritten der alte Geheimpolizist übers Gras. Mit seiner einen Handgriff er bald in die Tasche, bald zwirbelte er seinen Schnurrbart, wozu er wütend schnaubte; er hob den Blick nicht von der Erde und zermarterte sich sein Hirn. Wo sollte er für den Offizier bloss fünf Fälle in drei Tagen herkriegen? Fünf Stück in drei Tagen? wiederholte er innerlich grollend. Zweimal Unzucht, einmal Bettelei und der Rest dieses und jenes? Und dann fragte er sich auch noch, was für eine alte Vettel hat wohl so einen Kerl zur Welt gebracht? Soll ich denn meine Hand in den Sack stecken und Fälle hervorzaubern?! Will er denn ums Verrecken einen neuen Stern kriegen, der auf seiner Schulter prangen kann? Und das auf meine Kosten?
Er spuckte kräftig aus und trat mit seinen klobigen Schuhen auf das Ergebnis. Seine Gedanken arbeiteten weiter und weiter. Bettelei und dieses und jenes … Mit Gottes Hilfe würde er
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