Die Eisbärin (German Edition)
jenen Abend zurück, wo er sie plötzlich in der tanzenden Menge entdeckt und sie zunächst aus sicherer Entfernung beobachtet hatte. Das hellblaue Sommerkleid, das sich eng um ihre zierliche Gestalt schmiegte, die schulterlangen, kastanienbraunen Locken, die ihr bei jeder ihrer anmutigen Bewegungen ins Gesicht fielen, ihre sanften braunen Augen, die Kraft und intensive Wärme ausstrahlten.
Für Sabine hatte er sich so sehr ins Zeug gelegt, so viel Zeit, Anstrengungen und Kreativität investiert wie bei keiner anderen Frau zuvor. Nur wenige Monate später hielt er nach einem romantischen Abendessen um ihre Hand an und wäre vor Glück und Stolz beinahe zersprungen, als sie lächelnd einwilligte. Als fünf Monate nach der Hochzeit ihre Tochter geboren wurde, war er der glücklichste Mensch auf Erden. Er liebte Laura ebenso sehr wie Sabine und hoffte, dass sich seine Familie in Zukunft noch vergrößern würde.
Lächelnd nahm er sich vor, seine Frau am Abend mit einer kleinen Aufmerksamkeit zu überraschen.
Freitag, 24. September, 12.15 Uhr
Es war, als gefröre die Welt um sie herum zu Eis, während in ihrem Inneren ein rasender Sturm tobte. Sabines Herz pochte mit ungeheurer Wucht gegen die Brust und dröhnte hämmernd in ihren Ohren. Eine plötzliche, übermächtige Angst kam auf sie zu und schwappte wie eine riesige Brandungswelle über sie hinweg. Blitzbilder schossen durch ihren Kopf. Sie war unfähig zu denken.
So verharrte sie ein paar Augenblicke, die Augen geschlossen, die Finger krampfhaft um den Griff des Einkaufswagens geklammert, das Gefühl für Raum und Zeit verloren, vor Angst erstarrt.
Eine ferne Stimme schien etwas zu rufen, erst leise, dann immer lauter und fordernder. Aus den undeutlichen Worten glaubte sie ihren Namen herauszuhören. Plötzlich rissen die Laute die Blockade ein und drangen mit solcher Wucht in ihr Bewusstsein, dass es schmerzte.
„Mami, Mami! Was ist mit dir? Ich hab Angst!“
Laura hatte sich fest an Sabine gedrückt und schaute hinauf in das bleiche Gesicht ihrer Mutter.
Sabine betrachtete ihre Tochter und hörte sich selber sagen: „Nichts, Liebes. Mir ist nur plötzlich schwindelig geworden. Ich bekomme wohl Kopfschmerzen.“ Sie spürte, dass ihre Tochter noch immer große Angst hatte. „Es geht gleich wieder“, bemühte sie sich, Laura zu beruhigen, „such dir was von den Süßigkeiten aus.“
Irritiert widmete sich das Mädchen der riesigen Auswahl an Schokolade und Weingummi, blieb aber in der Nähe ihrer Mutter.
Es gab keinen Zweifel. Er war es.
Ein kurzer Augenblick hatte gereicht, um sicher zu sein. Sabine sammelte alle Kraft, die sie nach der Panikattacke noch hatte. Natürlich hatte sie oft daran gedacht, wie es wäre, diesem Mann wieder zu begegnen. Doch die Realität, die sie nun vorwarnungslos überkommen hatte, war weitaus brutaler, als jede ihrer Vorstellungen es je gewesen war.
Trotz allem musste sie sich der Situation stellen. Glücklicherweise stand sie weit abseits, so dass ihr Verhalten niemandem aufgefallen war. Sabine atmete tief ein und zwang ihren Blick, in Richtung Kasse zu wandern. Dann beobachtete sie den Mann. Er war gerade damit beschäftigt, seine Einkäufe auf das Band zu legen. Dabei stand er seitlich zu ihr, so dass sie sein Profil betrachten konnte.
Die gleiche gedrungene Gestalt, der gleiche deutliche Bauchansatz. Das rundliche, fleischige Gesicht, der nun vollkommen ergraute Haarkranz, die dichten, buschigen Augenbrauen. Die fahrigen, unbeholfenen Bewegungen.
Es gab keinen Zweifel. Er war es.
Der Mann in der Schlange war Herbert Lüscher. Lehrer für Erdkunde und Geschichte am Internat aus Sabines Kindheit.
Freitag, 24. September, 12.30 Uhr
Jürgen Kohlmeyer saß auf seiner Pritsche und warf alle paar Sekunden einen nervösen Blick auf seine Armbanduhr. Obwohl es ihm lächerlich vorkam, konnte er sich nicht dagegen wehren. Eine innere Unruhe, wie er sie lange Zeit nicht mehr erlebt hatte, ergriff Besitz von ihm.
In wenigen Minuten würde er auf den einzigen Mann treffen, zu dem er einen engeren Kontakt außerhalb der Justizvollzugsanstalt pflegte. Dieser Mann hieß Lothar Nienhaus und war seit vielen Jahren sein Anwalt. Heute wollte er ihm offenbar etwas sehr Wichtiges mitteilen.
Als er sich telefonisch angekündigt hatte, hatte Kohlmeyer sofort gespürt, dass es diesmal nicht um ein gewöhnliches Treffen ging. Allerdings hatte sich der Anwalt strikt geweigert, nähere Einzelheiten am Telefon zu nennen.
„Herr
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