Die Eisbärin (German Edition)
seinem Bruder in Verbindung setzt, um zumindest für die ersten Wochen eine feste Bleibe zu haben. Von dort aus könne er dann alle wichtigen Dinge regeln, wie die Suche nach Arbeit und einer eigenen Wohnung.
Doch Kohlmeyer sträubte sich gegen den Gedanken. Als er seinen Bruder das letzte Mal während einer Besuchszeit gesehen hatte, waren sie in einem fürchterlichen Streit auseinandergegangen. Seit diesem Vorfall vor 16 Jahren hatte er keinen Kontakt mehr zu seinem Bruder. Wie hätte er nur den ersten Schritt tun können? Als sein Anwalt sich am Morgen schließlich erboten hatte, selbst diesen ersten Kontakt herzustellen, war ihm ein Stein vom Herzen gefallen.
Die Scheu vor dem Wiedersehen mit dem Bruder war jedoch nicht seine einzige Sorge. Er hatte Angst vor der Welt außerhalb der Mauern, Angst davor, sich nicht mehr zurechtzufinden. Seine Heimat war die JVA, und das schon länger, als er denken konnte.
Samstag, 09. Oktober, 12.05 Uhr
Sabine schob die Auflaufform in den vorgeheizten Backofen und kontrollierte die eingestellte Zeit. Bis zum Mittagessen blieb ihr noch eine knappe Stunde. Sie freute sich darauf, in der Zwischenzeit ein ausgiebiges Bad zu nehmen.
In den vergangenen zwei Wochen hatte sie eine Menge Zeit für sich in Anspruch genommen und viel nachgedacht. Ihrer Familie war dieses Bedürfnis offenbar nicht entgangen, und Markus und Laura räumten ihr die nötigen Freiräume ein, ohne quälende Fragen zu stellen.
In den ersten beiden Tagen nach der schrecklichen Begegnung hatte Sabine mehrfach daran gedacht, sich Markus anzuvertrauen und ihm alles zu erzählen. Es kam ihr vor wie Betrug, mit dieser unausgesprochenen Wahrheit zu leben. Aber die Mauer, die sie um sich herum errichtet hatte, war zu groß. Sollte diese Mauer einstürzen, würde ihre kleine Familie mitgerissen und unter den Trümmern für immer begraben werden, fürchtete sie. Das durfte um keinen Preis der Welt geschehen. Sie zwang sich zu glauben, dass sie auch ein zweites Mal in der Lage sein würde, das Los ihres Schicksals anzunehmen. Sie würde es schaffen, alles wieder unter die Füße zu bekommen. Außerdem gab es Wichtigeres als ihren eigenen, inneren Frieden, sagte sie sich. Wenn sie nicht alles verlieren wollte, was ihr wichtig war, dann durfte sie sich nicht offenbaren. Sie durfte ebenso wenig zulassen, dass Rachegedanken in ihr aufstiegen. Dafür war einfach kein Platz, nicht in dem Leben, das sie nun schon seit so vielen Jahren erfolgreich führte und das sie sich nicht nehmen lassen wollte.
Doch tief in ihrem Innern nagte etwas an ihr, fraß und bohrte sich grausam und unbeirrt in ihre geschwächte und missbrauchte Seele. Sabine konnte es deutlich spüren.
Noch immer in Gedanken, stieg sie die Kellertreppe hinab, wo ein sprudelnder Whirlpool auf sie wartete. Sie war jedoch kaum unten angekommen, als sie plötzlich ein lautes Bellen hörte, gefolgt von einem jaulenden Winseln. Es kam eindeutig von Branca, von draußen aus dem Garten.
Sabine wusste, dass die dreijährige Labrador-Hündin diese Laute nur dann von sich gab, wenn sie eine vertraute Person begrüßte. Es müssen Laura und Nicole sein, die früher vom Spielen nach Hause kommen, dachte sie. Vielleicht hatte sich eines der Mädchen das Knie aufgeschlagen. Sabine schrieb das Entspannungsbad bereits innerlich ab. Als sie die Terrassentür erreichte, konnte sie die Schreie der Kinder bereits hören. Sie vermischten sich mit Brancas Winseln zu einer leidvoll klingenden Melodie. Sabine stutzte. Das Weinen passte nicht zu einer Schürfwunde. Es lag ein ungleich intensiverer Ausdruck darin. Was sie hörte, war nackte Panik.
Sekunden später tauchten die Mädchen vor dem kleinen Gartentor auf, wo Branca sie bereits erwartete. Ein Blick in das Gesicht ihrer Tochter beseitigte die letzte Hoffnung auf eine Harmlosigkeit. Im Gegenteil, ein grauenvoller Schauer jagte über Sabines Rücken. Sie kannte den Ausdruck auf dem kindlichen Gesicht. Genauso hatte Julia immer ausgesehen, ihre Zimmergenossin aus dem Internat.
„Mama!“
Mutter und Tochter rannten aufeinander zu und fielen sich mitten im Garten in die Arme, umtänzelt von einer aufgeregten Branca, die offenbar spürte, dass etwas nicht stimmte.
„Laura, Liebes, was ist passiert?“, presste Sabine hervor und fürchtete sich gleichzeitig so sehr vor der Antwort, dass ihr die Knie wegzusacken drohten.
„Mama, wir haben … gespielt …“, Laura brachte jedes Wort einzeln und schluchzend hervor. „Wir waren
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