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Die Eisbärin (German Edition)

Die Eisbärin (German Edition)

Titel: Die Eisbärin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Gereon
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zerstörerische Magma ihrer Erinnerung drang mit aller Macht zurück an die Oberfläche.
    Sie war wieder elf, lag in ihrem Internatsbett und spürte vor allem eines. Einsamkeit.
    Mama, Papa, warum habt ihr mich allein gelassen? Warum helft ihr mir denn nicht? Jetzt, wo auch noch Oma bei euch da oben ist. Warum könnt ihr mich nicht beschützen? Ihr habt mir doch immer gesagt, dass ihr mich liebhabt, warum könnt ihr nichts tun? Helft mir. Bitte …
    Plötzlich waren die Schritte wieder da. Sie war sich sicher, nein, sie irrte sich nicht. Sie hörte tatsächlich die Schritte.
    Sabine schrak hoch und stieß einen kurzen, schrillen Schrei aus. Der heiße Tee schwappte aus der Tasse und ergoss sich schmerzhaft über ihre rechte Hand und die Hose. Sie ließ die Tasse fallen, sprang auf und rannte in die Küche, um ihre Hand zu kühlen. Im selben Moment ging die Haustür auf, und Markus stand im Flur.
    „Hallo, Schatz, ich bin zu Hause“, hörte Sabine ihn rufen.
    „Hallo“, antwortete sie, doch ihr ohnehin schwaches Flüstern wurde vom Rauschen des Wassers verschluckt.
    „Hey, da bist du ja.“
    Markus stand plötzlich hinter ihr. Er lehnte am Rahmen der Küchentür und hatte die Hände hinter dem Rücken versteckt. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf ihre Hand. „Was ist passiert?“
    „Ach, ich hab mich verbrüht. Heißer Tee. Der Rest davon klebt im Wohnzimmerteppich.“
    „Verbrüht?“, fragte er. „Du solltest umsteigen auf ein weniger lebensgefährliches Getränk, probier’s doch mal mit Alkohol.“ Lächelnd präsentierte er eine Flasche Dom Perignon, ihrem Lieblingschampagner.
    Sabine drehte den Kopf in seine Richtung und bemühte sich, ebenfalls zu lächeln: „Ja, wahrscheinlich hast du recht.“
    Markus löste sich aus dem Türrahmen und ging ein paar Schritte auf sie zu.
    „Alles in Ordnung mit dir?“
    „Ja“, entgegnete Sabine, „ich habe nur wieder Kopfschmerzen.“
    „Das tut mir leid“, sagte er, stellte die Flasche auf die Ablage und legte die freie Hand auf ihre Schulter. „Aber vielleicht kann dich das hier ein bisschen aufheitern.“
    Er zauberte einen großen Strauß Blumen hervor und gab ihr lächelnd einen Kuss auf die Wange.
    Kaum merklich zuckte Sabine zusammen.
    „Lieb von dir, aber … hör zu, es tut mir leid. Die Kopfschmerzen sind stark, schlimmer als sonst. Ich lege mich besser hin. Vorher muss ich mich noch um den Teppich …“
    „Lass nur“, unterbrach er sie. „Ich mach das schon. Ruh dich aus und sag mir Bescheid, wenn du etwas brauchst.“
    „Danke“, sagte sie und lächelte erleichtert. „Sieh später bitte nach Laura, sie ist unten mit Nicole im Becken. Essen steht im Kühlschrank. Bitte sei mir nicht böse.“
    Ohne ihrem Mann in die Augen zu sehen, drückte sie sich an ihm vorbei und ging die Treppe hoch zu ihrem Schlafzimmer.
    Irritiert sah Markus ihr hinterher. So hatte er sich die Begrüßung nicht vorgestellt. Enttäuscht griff er nach der erstbesten Vase und stellte die Blumen auf den Wohnzimmertisch.
    Nachdem er den Teeflecken beseitigt hatte, fand er im Kühlschrank neben den Fischstäbchen noch einen kleinen Vorrat an Bier. Er öffnete eine Flasche und blickte auf die Küchenuhr. 18.30 Uhr.
    „Na dann – auf einen schönen Freitagabend“, stieß er mit sich selber an, „und danke für die Blumen.“

Samstag, 09. Oktober, 11.30 Uhr
    Jürgen Kohlmeyer saß auf seinem Bett und betrachtete die vorbeiziehenden Wolken durch das vergitterte Zellenfenster. Nun hatte er also Gewissheit. Seine Zeit in der JVA war unwiderruflich abgelaufen.
    Die riesige, unsichtbare Sanduhr seines Schicksals hatte 10 613 Tage durchrieseln lassen, und nun blieben lediglich Körner für 15 weitere Tage übrig. Der Brief des zuständigen Landgerichtes lag aufgefaltet vor ihm auf dem Tisch. Der Schlüssel in eine plötzliche, unerwartete Freiheit.
    Sein Anwalt leistete gute Arbeit und war dafür verantwortlich, dass die Dinge so schnell ins Rollen kamen. Als er am Morgen da gewesen war, hatte Jürgen Kohlmeyer erfahren, dass er zunächst unter ständiger polizeilicher Beobachtung stehen sollte. Staatliche Wachhunde, wie Nienhaus sie nannte, die ihn 24 Stunden am Tag auf Schritt und Tritt verfolgen würden. Im Grunde wusste Kohlmeyer, dass er all das nicht wollte und sein Leben lieber innerhalb der Strafanstalt fortsetzen würde. Aber die Entscheidungen waren gefallen, und er konnte nichts daran ändern. Der Anwalt hatte vorgeschlagen, dass Kohlmeyer sich telefonisch mit

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