Die Eisbärin (German Edition)
erlassen, das die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung ermöglicht. In Ihrem Fall hat man diese neugeschaffene Möglichkeit angewandt und die Dauer der Verwahrung auf unbestimmte Zeit hinaufgesetzt.“
Der Anwalt machte eine kurze Atempause.
„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du jetzt langsam zum Punkt kommst“, warf Kohlmeyer mit einer theatralischen Handbewegung ein.
Nienhaus wurde schlagartig bewusst, dass er seinem Mandanten noch nie Sympathie entgegengebracht hatte. In Wahrheit konnte er ihn nicht ausstehen. Und dieses Gefühl der Abneigung hatte nicht in erster Linie mit Jürgen Kohlmeyers Straftaten zu tun, die allesamt bestialisch und abscheulich waren. Vielmehr war es die befremdliche Kälte, die den Mann umgab wie ein unsichtbarer Mantel. Dazu seine stechenden blauen Augen, die in keinem Moment durchschimmern ließen, was dahinter in seinem Kopf vor sich ging.
Er versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, und fuhr fort: „Nun ja, jedenfalls hatte sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg unlängst mit einer Klage zu beschäftigen, die sich genau auf die damals beschlossene Möglichkeit zur nachträglichen Verlängerung der Fristen bezog. Vor zwei Wochen ist das Urteil gefällt worden. Das Gericht hat es als Verstoß gegen die Menschenrechte gewertet, dass die 1998 geschaffene Rechtslage rückwirkend angewandt wurde. Gemeint ist also die Anwendung auf jene Straftäter, die ihre Tat vor Inkrafttreten der Neuregelung begangen haben. Diese Entscheidung betrifft zwar einen konkreten Einzelfall, jedoch ist sie selbstverständlich auch für vergleichbare Fälle heranzuziehen. Herr Kohlmeyer, um genau so einen Parallelfall handelt es sich bei Ihnen.“
Jürgen Kohlmeyer war den Ausführungen seines Anwaltes aufmerksam gefolgt. Jedes Wort hatte er aufgenommen und versuchte nun, die Konsequenzen zu ermessen.
„Das heißt, diese Richter haben gesagt, dass ich hier zu Unrecht festgehalten werde, weil es gegen die … gegen die Menschenrechte verstößt?“
Er spürte, wie erneut heftige Unruhe in ihm aufstieg.
„Wenn Sie so wollen, ja, so ist es.“
„Und wenn diese oder andere Richter sich nun wieder alles anders überlegen und neue Gesetze machen?“
„Nein, die Richter machen die Gesetze nicht, sie sprechen lediglich Urteile. Und dieses hier ist unanfechtbar. Es ist absolut bindend, und die Bundesrepublik Deutschland muss danach handeln. Sie werden in absehbarer Zeit in Freiheit leben.“
Jürgen Kohlmeyer begann langsam, die Bedeutung dieser Informationen zu erkennen. Doch anstatt aufzuspringen und seinem Anwalt vor Freude um den Hals zu fallen, saß er still und reglos auf seinem Stuhl, in Gedanken versunken. Seit nunmehr 29 Jahren, was rund der Hälfte seines Lebens entsprach, saß er im Gefängnis.
Was er vorher von diesem Gespräch erwartet oder erhofft hatte, vermochte er nicht mehr zu sagen. Mit der Aussicht auf ein Leben in Freiheit hatte er jedenfalls nicht gerechnet. Nachdem sich die Wogen in seinem Innern ein wenig geglättet hatten, kristallisierte sich ein Gefühl heraus, das alles andere zu überlagern begann.
Jürgen Kohlmeyer hatte Angst.
Freitag, 24. September, 16.15 Uhr
Während der Fahrt vom Supermarkt nach Hause hatten Sabine und Laura kaum ein Wort miteinander gesprochen. Es tat Sabine weh, ihre Tochter anlügen zu müssen, aber die vorgeschobenen Kopfschmerzen waren die einzige Möglichkeit, die Fassade zu wahren, hinter der sie ihren Schock, ihre Angst verbergen konnte. Laura wusste, dass ihre Mutter bei einem Migräneanfall vor allem Ruhe brauchte.
Nach dem Mittagessen war Nicole zum Spielen gekommen. Sabine war erleichtert, dass die beiden Mädchen beschlossen hatten, im Schwimmbecken zu planschen, das sich im Kellergeschoss ihres Hauses befand. Sie selbst verbrachte die Nachmittagsstunden am Klavier und flüchtete in eine andere Welt, eine angenehme Illusion aus sanfter, melodischer Trance.
Gegen Viertel nach sechs saß Sabine mit einer dampfenden Tasse Tee auf dem Sofa und starrte ins Leere, während ihr Geist unaufhaltsam in die dunkle Vergangenheit reiste. Er kehrte zurück an jenen Ort, der den dramatischen Wendepunkt in ihrem Leben markierte und der seit vielen Jahren tief in ihrem Bewusstsein vergraben und verschüttet lag.
Seit der Begegnung im Supermarkt hatten die schützenden Schichten jedoch Risse bekommen. Risse, die wie Vorboten einer riesigen Explosion immer größer wurden. Das glühende,
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