Die Eisbärin (German Edition)
einem Stadtteil von Essen, der wie eine Halbinsel von den Wassern der Ruhr umschlossen war. Hier ging Laura in die dritte Klasse der Georgschule, einer kleinen Grundschule mit ausgezeichnetem Ruf, die weniger als einen Kilometer Fußweg von zu Hause entfernt lag.
Als Sabine in die letzten 200 Meter der Heisinger Straße einfuhr, erkannte sie Laura schon an ihrem langen blonden Zopf, der roten Jacke und dem bunten Tornister. Das Mädchen neben ihr war Nicole Kraus, zurzeit ihre beste Freundin. Laura kannte sie erst seit dem Sommer, als Nicole neu in die Klasse gekommen war, aber die Mädchen verstanden sich blendend. Sie verbrachten viel Zeit miteinander und übernachteten oft gemeinsam bei ihnen oder Nicoles Eltern.
„Hi Mami“, rief Laura, als Sabine neben den beiden anhielt. Vergnügt verstaute ihre Tochter die beiden Tornister im Kofferraum des dunkelblauen BMW Kombi. Sie schien über den frühzeitig beendeten Schultag nicht allzu traurig zu sein. Lachend kletterten die Kinder auf die Rückbank und legten die Gurte an.
„Hallo, ihr zwei“, begrüßte Sabine die Mädchen. „Soll ich dich nach Hause fahren, oder möchtest du erst einmal mit zu uns?“, fragte sie Nicole.
„Nö, ich hab einen Schlüssel, und Mama ist bestimmt nur kurz einkaufen.“
„Hast du Bescheid gesagt, falls sie vom Einkaufen direkt hierherfährt?“, erkundigte sich Sabine.
„Hab ich unserer Klassenlehrerin gesagt.“
„Mathe fällt noch die ganze nächste Woche aus“, verkündete Laura fröhlich. „Aber ab Montag haben wir eine Vertretung“, fügte sie mit gespielt ernster Miene hinzu. „So ein Mist.“
Gut gelaunt berichteten die beiden Mädchen während der Fahrt von ihrem Tag, und Sabine ließ sich von der fröhlichen Ausgelassenheit anstecken.
Nachdem sie Nicole kurz nach halb zwölf am Steinhagen im Stadtteil Steele abgesetzt und gewartet hatte, bis das Mädchen mit einem Winken im Haus verschwunden war, wandte sie sich an Laura: „Was möchtest du heute essen, Liebes?“
„Hm“, Laura gab vor, angestrengt nachzudenken, „am liebsten Kartoffelbrei mit Fischstäbchen!“
Sabine schmunzelte, denn natürlich hatte sie die Antwort schon vorher gekannt. „Oje, da muss ich aber erst nachschauen, ob ich das Rezept noch irgendwo finde!“ Sie grinste, und beide mussten lachen.
Sabine dachte nach, Kartoffeln und Milch hatte sie noch zu Hause, doch der Vorrat an Fischstäbchen hielt dem scheinbar unstillbaren Verlangen ihrer Tochter nie lange stand. Sie steuerte den nächstgelegenen Supermarkt an, und schon bald hatten Mutter und Tochter alles in den Einkaufswagen geladen, was sie für die nächsten Tage brauchen würden. Auf dem Weg zur Kasse fiel Sabine noch etwas ein.
„Liebes, ich habe meinen Tee vergessen, er müsste dort drüben stehen.“ Sie sah ihre Tochter an und zwinkerte verschwörerisch. „Gegenüber von den Süßigkeiten.“
Nach diesem Zauberwort folgte Laura ihrer Mutter mehr als bereitwillig zurück durch die Gänge des Supermarkts. Es dauerte nicht lange, bis Sabine den klassischen schwarzen Darjeeling gefunden hatte. Sie nahm die Packung aus dem Regal und drehte sich zum Einkaufswagen hin. Für den Bruchteil einer Sekunde streifte ihr Blick dabei die Warteschlange vor der Kasse.
Es war ein Blick in den Abgrund der Hölle.
Freitag, 24. September, 12.10 Uhr
„Mach nur den Mund weit auf. Ja, so ist es gut.“
Er richtete die Leuchte aus und fing an, den Mundraum des Jungen mit dem kleinen Handspiegel zu untersuchen. Der Zehnjährige war kurz zuvor mit akuten Zahnschmerzen und seiner besorgten Mutter in die Praxis gekommen und lag nun verängstigt und kleinlaut auf dem großen Untersuchungsstuhl.
Nachdem die Spritze ihre betäubende Wirkung erreicht hatte, rückte Markus Kleiber mit geübten Handgriffen dem kariösen Zahn zu Leibe. Kurze Zeit später konnte er Mutter und Sohn verabschieden und ließ sich für einen kurzen Moment erschöpft auf einen Stuhl sinken. Es war ein stressiger Tag gewesen, und er freute sich sehnlichst auf den Dienstschluss am Nachmittag. Er freute sich, nach Hause zu kommen und seine Frau Sabine zu sehen. Ja, er freute sich sogar sehr auf Sabine.
Sie kannten sich bereits zwölf Jahre, von denen sie rund neun Jahre verheiratet waren, und er liebte sie noch wie am ersten Tag. Er hatte Sabine in Münster kennengelernt, auf einer der zahlreichen Studentenpartys im Jahr vor seinem Abschluss. Für ihn war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Gern und oft dachte er an
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