Die eisblaue Spur
die Urteile des Obersten
Gerichtshofs interessierten, und mit der Sekretärin Bella, die
ebenfalls länger als vertretbar im Internet surfte.
Dóra schaute wieder auf
die Liste mit Mandanten und Fällen: Scheidungen, Insolvenzen,
diverse Finanzsachen. Dann noch ein paar Erbangelegenheiten,
Vaterschaftsklagen und eine Reihe von Kleinstfällen.
Dóra sehnte sich nach neuen Strafsachen. Die waren viel
anspruchsvoller als Bragis Spezialgebiet Scheidungen. Da er sich in
dem Bereich einen guten Namen gemacht hatte, wandten sich immer
mehr Leute an die Kanzlei, wenn ihre Ehe bröckelte.
Diese Fälle waren jedoch
meistens ziemlich skurril. Dóra hatte beispielsweise einen
Mandanten namens Trausti, der im Zuge seiner Scheidung seinen
Vornamen ändern lassen wollte, weil seine Frau ihn für
einen anderen Mann mit demselben Namen verlassen hatte. Im Grunde
war das problemlos möglich. Die Sache verkomplizierte sich
allerdings dadurch, dass besagter Trausti es nicht darauf beruhen
lassen wollte, sondern auch noch den Nachnamen der gemeinsamen
Kinder, also den Vaternamen Traustason, ändern lassen wollte.
Er wollte unbedingt klarstellen, dass er der Vater der Kinder war
und nicht der neue Mann im Leben seiner Frau. Die
Namensgesetzgebung gestattete zwar unter besonderen Umständen
eine Änderung der Nachnamen der Kinder, aber diesen Fall hatte
der Gesetzgeber nicht vorgesehen. Daher war die Vorgehensweise
unklar. Dóra hielt es für unwahrscheinlich, dass
Trausti, der nicht Trausti heißen wollte, recht bekommen
würde, zumal die Mutter der Kinder absolut gegen die
Änderung war. Nachdem Dóra ihm ihre Einwände
dargelegt hatte, wurde der Mann noch hartnäckiger, und am Ende
ließ sie sich überreden und setzte ein Schreiben an den
Justizminister auf. Bevor sie diesen grotesken Brief unterschrieb,
hätte sie am liebsten ihren Namen geändert. Sie hatte ihn
vor gut einem Monat abgeschickt und immer noch keine Antwort
erhalten. Wahrscheinlich überlegten die Beamten noch, ob es
sich um einen Scherz handelte.
Dóras eigene Scheidung
hatte seinerzeit auch nicht gerade die besten Seiten an ihr und
ihrem Ex-Mann Hannes zum Vorschein gebracht. Allerdings hatte ihnen
die Phantasie gefehlt, sich über etwas anderes als weltliche
Güter wie Flachbildschirme und DVD-Player zu streiten.
Über Namensänderungen hatten sie nie diskutiert. Diese
Erfahrung machte wohl den Unterschied zwischen Dóra und
Bragi aus, der solche Fälle liebte. Er war seit dreißig
Jahren mit derselben Frau verheiratet. Dóras eigene
Scheidung lag schon so weit zurück, dass ihr inzwischen klar
war, wie unerträglich sie gewesen sein musste; sie hatte jede
Gelegenheit wahrgenommen, sich über Hannes’
unmögliches Verhalten zu beklagen. Natürlich war sie ihm
gegenüber sehr ungerecht gewesen – und umgekehrt
genauso. Aber trotzdem war es am vernünftigsten gewesen, sich
scheiden zu lassen – darüber waren sie sich immerhin
einig.
Inzwischen hatte sich das Blatt
gewendet. Dóra hatte eine feste Beziehung mit Matthias Reich
aus Deutschland, der eine Stelle als Leiter der
Sicherheitsabteilung bei der Kaupþing-Bank angenommen hatte.
Allerdings waren sie noch nicht zusammengezogen. Er war zwar nicht
abgeneigt, aber es lag an ihr. Dóra hatte im Augenblick alle
Hände voll zu tun: Ihre beiden Kinder, Sóley und Gylfi,
brauchten ihre ganze Aufmerksamkeit, und dann war da noch ihr fast
zweijähriger Enkel Orri. Dóras Aufgaben als Oma waren
wesentlich umfangreicher als üblich. Ihr Sohn war selbst noch
ein Kind gewesen, als er mit seiner Freundin Sigga leichtsinnige
biologische Experimente durchgeführt hatte. Orri sprach noch
nicht viel und nannte Dóra immer noch Mama. Wer sie nicht
kannte, musste Dóra für ziemlich merkwürdig
halten, da sie ihre älteren Kinder scheinbar auf das
Jüngste aufpassen ließ und sich noch nicht einmal darum
kümmerte, wenn Orri weinte oder nach seiner Mama rief. Aber so
war es nun mal, wenn man so früh Oma wurde.
Man konnte also nicht sagen,
dass sie nicht mit Matthias zusammenwohnen wollte. Sie fand es nur
einfach bequem, ab und zu in ein anderes Leben einzutauchen, ein
Leben, in dem alles sauber und ordentlich war, ohne schmutzige
Windeln, ohne Pausenbrote, die geschmiert werden mussten, und ohne
Klamottenstapel vor der Waschmaschine. In diesem Parallelleben
konnte Dóra essen gehen, Cafés besuchen und einfach
das tun, wozu sie Lust hatte. Dieses Leben drehte sich
ausschließlich um Matthias und sie, zwei erwachsene
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