Die eisblaue Spur
die
Kameraführung war sehr wackelig. Am Anfang tauchten ein
Bücherregal und ein Stuhl auf, dann wurde die Kamera sofort
auf den gesprenkelten Fußboden gerichtet. Diese Perspektive
wurde mehr oder weniger bis zum Ende beibehalten. Außer dem
Fußboden waren zwei Füße und Unterschenkel zu
sehen. Der Besitzer der Beine lag oder saß auf dem Boden, was
an und für sich schon merkwürdig war. Und er schien sich
nicht zu bewegen, was das Ganze noch befremdlicher machte. Dem
Schuhwerk nach zu urteilen, handelte es sich hierbei nicht um eine
feuchtfröhliche Party. Die Füße steckten in dicken
isländischen Wollsocken und altmodischen Hausschlappen, die
für eine Party höchst ungeeignet waren. Die Person trug
Jeans und saß oder lag mit ausgestreckten Beinen auf dem
Boden, die Füße nach außen gespreizt. Dóra
hatte den Eindruck, dass es ein Mann war, ohne genau sagen zu
können, warum, denn die Größe der Füße
und Schuhe war nicht auszumachen.
In den drei Minuten und
zweiundzwanzig Sekunden, die der Clip dauerte, zuckten die Beine
viermal unnatürlich. Jedes Mal, bevor dies geschah,
übertönte ein Zischen das Rauschen und mündete in
einen gedämpften Schlaglaut. Dann zuckten die Beine, ein
dunkler Nieselregen tauchte kurz auf und verschwand wieder aus dem
Bildausschnitt. Dóra war jahrelang dazu gezwungen gewesen,
mit ihrem Sohn Gylfi Horrorfilme anzuschauen. Vielleicht
interpretierte sie deshalb das Schlimmste in die Szene hinein. Sie
hatte den Eindruck, dass entweder eine Leiche zerteilt oder jemand
mit einer Axt oder einem schweren Gegenstand erschlagen wurde. Aber
Letzteres konnte eigentlich nicht der Fall sein, denn es waren
keine Schreie oder Schmerzenslaute zu hören. Nur dieses
Zischen, der Schlaglaut – und ein merkwürdiges
Kindersummen. Dóra erkannte eine Melodie, konnte den Text
aber nicht verstehen. Entweder sang das Kind einfach irgendetwas
vor sich hin, oder Dóra hatte die Sprache noch nie
gehört. Sie nahm das Telefon und wählte die Durchwahl
ihres Kollegen Bragi. »Kannst du mal kurz
rüberkommen?« Dóra kniff die Augen zusammen,
während sie den Clip zum dritten Mal ablaufen ließ.
»Ich bräuchte mal deine Meinung.« Sie stoppte den
Film, lehnte sich im Stuhl zurück und überlegte. Es war
bestimmt ein Fehler gewesen, die Reise zuzusagen, aber sie konnte
immer noch einen Rückzieher machen. Sie ließ ihren Blick
über die Unterlagen auf ihrem Tisch schweifen und sah die
Papiere des Namensänderungsfalls ganz oben auf dem kleinen
Stapel liegen. Dann blickte sie wieder auf den Bildschirm. Dem Clip
nach zu urteilen, war dieser Grönlandfall in der Tat von ganz
anderem Kaliber.
»Was ist denn?«,
frage Bragi neugierig, als er in voller Pracht in der
Türöffnung erschien. Er war sehr groß, bekam mit
zunehmendem Alter etwas Bärenhaftes und trug einen dunklen
Anzug mit Krawatte. Er gehörte zu der Generation von
Anwälten, die es als Schande für ihren Stand ansahen,
sich leger zu kleiden. Seine Prinzipien gingen allerdings nur so
weit, dass er den Krawattenknoten gelockert und den obersten
Hemdknopf geöffnet hatte, wodurch seine Würde ein wenig
litt.
»Guck dir das bitte mal
an.« Dóra zeigte auf den Bildschirm. »Und dann
sag mir, was du davon hältst.« Sie spielte den Film ab
und schob ihren Schreibtischstuhl zurück, damit Bragi besser
sehen konnte. Er hatte ein Faible für merkwürdige
Vorfälle. Dóra wartete, bis die Szene vorbei und das
sonderbare Kindersummen verklungen war. »Und? Was sagst
du?«
Bragis Augen funkelten.
»Wenn das ein Scheidungsfall ist, dann nehme ich ihn sofort
an.« Er tastete nach der Maus, um den Clip noch einmal
abzuspielen. »Das ist ja Wahnsinn!«
Dóra bremste ihn und
erzählte ihm von Matthias’ Angebot und der Herkunft der
Videoaufnahme. Bragis Lächeln verschwand, als er merkte, dass
es sich offenbar nicht um einen Ehekrieg handelte. »Was
glaubst du, was das ist, Bragi?«
»Das ist bestenfalls
Körperverletzung. Und schlimmstenfalls Mord.«
»Das glaube ich auch. Ich
sollte den Auftrag wohl doch besser ablehnen. Was, wenn der Film in
diesem Camp aufgenommen wurde?«
»Ich würde da nicht
zu viel reininterpretieren.« Bragi tätschelte ihre
Schulter. »Das könnte überall aufgenommen worden
sein. Sogar in einem Fitnesscenter.«
»Ich bezweifle, dass
jemand in Wollsocken ins Fitnesscenter geht. Was für eine
Übung sollte das deiner Meinung nach sein?«
»Das weiß der liebe
Himmel. Die machen da doch so allerlei. Ich habe
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