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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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Menschen,
die am Wochenende nicht in aller Herrgottsfrühe aufstehen
wollten, um Zeichentrickfilme zu gucken. Dóra kam nur jedes
zweite Wochenende in den Genuss dieses Lebens, wenn die ganze
Kompanie zu Hannes und seiner neuen Frau übersiedelte. Es gab
wenig, was Dóra mehr amüsierte als die aufgesetzte
Fröhlichkeit des Wochenendpapas, wenn sie mit der Kinderschar
vorfuhr. Sein Lächeln war wie festgefroren, seit sich Sigga
kürzlich mit ihrer Mutter überworfen hatte und ganz zu
Dóra gezogen war. Gylfis Freundin ließ es sich
nämlich nicht nehmen, einfach mit zu Hannes zu fahren, und als
der protestieren wollte, sagte Gylfi, wenn Sigga nicht willkommen
sei, dann würde er auch nicht mehr kommen. Sein Vater
verstummte, und auf einmal war nicht mehr die Rede von zu wenig
Platz. Gylfi war achtzehn und musste längst nicht mehr jedes
zweite Wochenende zu seinem Vater; er hätte sich schon mit
sechzehn weigern können. Dóra bezweifelte, dass Gylfi
das wusste, hatte ihn aber auch nicht darauf hingewiesen, damit
Vater und Sohn weiter in Kontakt blieben. Und damit sie selbst ein
bisschen Luft hatte.
    Dóra versuchte, sich
wieder zu konzentrieren – auf den Entwurf für eine
Teilungserklärung: Ein zweistöckiges Einfamilienhaus
sollte in zwei getrennte Wohnbereiche aufgeteilt werden, um den
Eigentümer vor dem Schwarzen Loch eines
Fremdwährungskredits zu retten, den er in einem Anfall von
Optimismus zur falschen Zeit aufgenommen hatte.
    Bevor sich Dóra an die
Arbeit machte, rief Matthias an. Es war ziemlich ungewöhnlich,
dass er sie während der Arbeitszeit anrief. Im Gegensatz zu
Dóra war er sehr gewissenhaft, nahm beispielsweise den
Isländischkurs, zu dem er sich angemeldet hatte, sehr ernst.
Am Anfang hatte Dóra ihm bei den Hausaufgaben geholfen und
der Verlockung nicht widerstehen können, ein paar
unanständige Worte in seine Aufsätze zu schmuggeln.
Matthias fand solche Scherze überhaupt nicht witzig und lehnte
ihre Hilfe fortan ab, woraufhin Dóras Tochter Sóley
den Nachhilfeunterricht übernahm. Sóley war erst acht
Jahre alt und brachte noch den nötigen Respekt für jede
Art von Unterricht auf. Die beiden wurden die besten Freunde, und
Matthias konnte sich schon bald auf Isländisch
verständigen, auch wenn Dóra und er weiterhin Deutsch
miteinander sprachen.
    »Was hältst du von
einem kleinen Auftrag für die Bank?«, fragte Matthias,
nachdem er sich für die Störung im Büro entschuldigt
hatte.
    »Für die Bank?«
Banken hatten doch ein Heer von Experten und Juristen an der Hand.
»Was denn für ein Auftrag?« Dóra starrte
die Teilungserklärung auf ihrem Bildschirm an. Brauchten die
etwa auch so was? Hatte sich das Heer von Anwälten geweigert,
sich mit derart langweiligem Kram zu
beschäftigen?         
    »Es geht um eine
Erfüllungsgarantie«, antwortete Matthias. »Die
Bank bürgt für ein Bauunternehmen, die Firma
Bergtækni. Die halten ihren Werkvertrag mit einem britischen
Bergbaukonzern nicht ein. Sieht so aus, als wollten die Briten die
Garantie in Anspruch nehmen, was zur Folge hätte, dass die
Bank zahlen muss.« Er schwieg einen Moment. »Es geht um
einen Haufen Geld, ehrlich gesagt, eine Riesensumme – die
Bürgschaft läuft in Euro.«
    »Und was soll ich dabei
tun? Den Bergbaukonzern davon abhalten, sein Geld
einzufordern?« 
    Matthias lachte kurz auf.
»Nein, da hättest du wohl keine Chance. Die sind
ziemlich hartnäckig. Die wollen Geschäfte machen, keine
Kredite vergeben. Selbst wenn sie die Garantiesumme von der Bank
bekommen, machen sie noch Verluste. Sie versuchen einfach, den
Schaden zu begrenzen.«
    »Und was genau soll ich
machen? Mich um den Geldtransfer kümmern? Ansprüche
geltend machen?« Womöglich war der Fall noch
langweiliger als Teilungserklärungen.
    »Weder noch«,
entgegnete Matthias. »Die Sache ist die, dass Bergtækni
weit hinter dem Zeitplan zurück ist. Sie werden die
Verzögerung kaum aufholen können. Zumal ihnen auch noch
Kapazitäten weggebrochen sind und es nicht so aussieht, als
würde sich da in absehbarer Zeit was ändern. Die
Mitarbeiter weigern sich, an ihren Einsatzort zurückzukehren,
und die Arbeit ist so spezialisiert, dass man auf die Schnelle
keine Ersatzleute bekommt. Wir planen, jemanden zum Einsatzort zu
schicken, um den Stand der Dinge zu überprüfen, ob die
Bank eine andere Firma beauftragen soll.«
    »Darf sie das denn?«
Obwohl Dóra schon mit Vertragsrecht zu tun gehabt hatte, war
noch nie ein Werkvertrag auf ihrem

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