Die Eisfestung
bezahlt.
Die Jahre gingen ins Land. Der Burgherr verbrachte seine Zeit mit Vorliebe auf anderen Burgen. Er kam nur noch selten hierher, und wenn er das tat, dann nächtigte er nie in der Festung. Doch eines Winters, es war schon spät am Abend, wird er durch heftigen Schneefall und Sturm aufgehalten. Die Burg liegt ganz in der Nähe. Widerwillig lässt er sich dazu überreden, hier Einkehr zu halten für Herberge und Nachtmahl. Nachdem er gespeist hat, zieht er sich in seine Kemenate zurück -«
»Nicht in dieses Zimmer hier«, unterbrach ihn Emily. »Sag, dass es nicht dieses Zimmer war.«
»Glaub ich nicht – die Burg war groß. Es war eine sehr stürmische Nacht. Der Wind tobte um das Gemäuer, als heulten die Verdammten in der Hölle um die Wette. Aber im Innern der Burg war alles still, bis ein paar Diener aus dem Gefolge des Burgherrn plötzlich von einem Schrei aufgeweckt werden. Sie eilen in den großen Rittersaal und blicken nach oben – auf der Brüstung des Balkons stehen zwei Gestalten. Eine davon ist der Burgherr – er weicht zurück, bittet, stammelt, fleht, auch wenn die Diener nicht verstehen können, was er sagt. Die andere Gestalt hat sich ihm bis auf wenige Schritte genähert und schweigt; ihr Gesicht bleibt stets im Schatten. Aber die Diener können erkennen, dass sie eine Kapuze trägt. Der Burgherr verstummt, schweigend setzt er einen Fuß hinter den anderen und die andere Gestalt schreitet unbeirrt auf ihn zu. Schließlich steht der Burgherr, in die Ecke gedrängt, auf der Brüstung hoch über dem Rittersaal. Er schaut nach rechts, er schaut nach links, aber er kann nirgendwohin entfliehen... Da macht die Gestalt mit der Kapuze eine plötzliche drohende Gebärde. Der Burgherr schreit, versucht zu entkommen, verliert das Gleichgewicht – und stürzt in die Tiefe! Die Steinplatten des Rittersaals sind rot von seinem Blut. Die Diener rennen zu ihrem Herrn, aber er ist tot – seine Glieder sind zerschmettert. Als ihnen einfällt, noch einmal nach oben zu blicken, ist die Gestalt auf der Brüstung verschwunden. Keiner von all den Männern, die danach noch in den Saal gestürzt kamen, konnte sich daran erinnern, eine Gestalt mit einer Kapuze bemerkt zu haben.«
Emily fröstelte in ihrem Schlafsack. »Bin ich das oder ist es hier plötzlich eiskalt geworden?«
»Das bist du«, sagte Simon. »Und – ist der Geist des Abtes später noch mal aufgetaucht?«
»Nicht dass ich wüsste. War nicht nötig. Er hatte bekommen, was er wollte.«
»Was war mit seinem Leichnam? War er irgendwo in der Burg eingemauert?«
»Er wurde nie gefunden. Vielleicht ist er immer noch hier...«
»Marcus!«
Vom Feuer war nur noch etwas Glut übrig, die nicht mehr genug Kraft hatte, um das Zimmer zu erhellen. Simons Stimme klang ganz nah.
»Du bist ein guter Geschichtenerzähler, Marcus«, sagte er.
»Danke.«
»Hast du nicht gesagt, dass du selber mal einen Geist gesehen hast?«
Eine kurze Pause. »Hab ich das? Kann mich nicht erinnern.«
»Doch, hast du. Beim ersten Mal, als wir hier waren. Erinnerst du dich auch, Em?«
»Ja. Im Torhaus.«
»Wirklich...?«
»Wahrscheinlich hast du da nur so rumgeflunkert«, sagte Emily. Sie mummte sich tief in ihren Schlafsack ein. »Ich werd jetzt jedenfalls schlafen. Wenn ich das nach der Geschichte noch kann.«
»Ja«, sagte Simon. »Nacht.«
Eine leise Stimme, die wenig Ähnlichkeit mit dem normalen aufgeregten Quasselton von Marcus hatte, kam aus dem Dunkel. »Ich hab da nicht rumgeflunkert«, sagte er. »Ich hab einen Geist gesehen. Ich erzähl es euch, wenn ihr wollt, aber ihr müsst versprechen, dass ihr es niemandem weitererzählt.«
Ein Schweigen. In seinem Tonfall war etwas, was sie zögern ließ.
»Du musst nicht, wenn du nicht willst«, sagte Emily.
»Nein«, sagte Simon. »Aber wir würden es nie weitererzählen, das würden wir nie tun, nicht wahr, Em?«
»Natürlich nicht.«
»Es ist nur... ich hab das noch nie jemandem erzählt. Ich hab das immer für mich behalten. Ich könnte es nicht ertragen, wenn andere das wüssten. Ich würde mich lieber umbringen. Versteht ihr, was ich meine? Ach, vielleicht besser nicht... ihr sagt ja doch nur wieder, dass ich alles erfunden habe. Das macht ihr ja immer.«
»Nicht wenn du schwörst, dass es wahr ist«, sagte Simon.
»Du kannst uns vertrauen«, sagte Emily. »Aber wenn du lieber nicht -«
»Doch. Also okay. Ich werd es euch erzählen. Es ist auch gar keine richtige Geschichte. Ich meine, so eine
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