Die Eisfestung
Geschichte mit allem, was dazugehört. Okay...« Er holte tief Luft. »Also, es war letztes Jahr, als meine Mutter noch gelebt hat. Ich hatte Streit mit ihr gehabt, nichts besonderes, nur dass ich mein Zimmer aufräumen sollte. Ziemlich idiotisch, ganz ehrlich. Sie war wütend, ich war wütend und dann ich bin rausgestürmt. Ich hab mein Fahrrad gepackt und bin losgeradelt, egal wohin. Ich habe wie wild gestrampelt und mit einem Stecken auf die Hecken am Straßenrand eingepeitscht. Es hat ewige Zeiten gedauert, aber irgendwann war mein Ärger vorbei, und ich bin umgedreht, um wieder nach Hause zu fahren. Ich bin also die Straße entlanggefahren und da ist eine Kurve und plötzlich taucht eine schwarze Gestalt in zerlumpter Kleidung hinter der Hecke auf. Ich starre sie an, drehe den Kopf und dann liegt dieser verfluchte Stein auf der Straße. Ich stürze kopfüber über meinen Lenker und lande auf der anderen Seite, Kopf im Gras, Füße in der Hecke. Ich hatte Glück, jede Menge Kratzer und blaue Flecken, aber nichts gebrochen. Doch mein Fahrrad war geliefert. Das Vorderrad war total verbogen. Ich bin aufgestanden, hab das Rad aufgehoben und zu der Hecke hinübergeschaut, wo ich die schwarze Gestalt gesehen hatte...«
»Und – was war da?«
»Es war nur eine Vogelscheuche. Aber wie gesagt, mein Fahrrad war kaputt. Ich war mehrere Kilometer von zu Hause entfernt, irgendwo in der Landschaft, auf einer verlassenen Landstraße. Dann hab ich mich humpelnd auf den Rückweg gemacht und das Fahrrad die Straße entlanggeschoben. Ich hab eineinhalb Stunden gebraucht, bis ich endlich wieder in unsere Straße eingebogen bin, und meine Laune war auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt, viel schlimmer als vorher. Ich war total erschöpft, mir tat alles weh und mein Fahrrad war Schrott... Als ich zu unserer Einfahrt gekommen bin, sah ich meine Mutter im Vorgarten stehen. Sie hat meinen Namen gerufen, aber ich war viel zu wütend, um darauf zu reagieren. Ich hab sie nur finster angeblickt und das Fahrrad hinters Haus geschoben. Sie hat noch zu mir gesagt: ›Es wird alles gut werden, mein Liebling‹, aber ich hab sie nicht weiter beachtet. Hab das Fahrrad abgestellt und bin dann die Treppe hoch.
Na ja, ich hab dann den Dreck abgewaschen, Pflaster auf meine Wunden geklebt, mich umgezogen. Danach ging es mir ein bisschen besser, deshalb bin ich runter, um mich mit Mum wieder zu vertragen, aber ich konnte sie nicht finden, weder im Haus noch im Garten. Sie musste weggegangen sein. Also hab ich mich mit einer Tüte Chips vor die Glotze gehockt. Kurz darauf kam Dad nach Hause. Er hat damals Tagschicht gearbeitet, aber das war nicht seine normale Zeit. Er kam viel zu früh. Ich habe hochgeschaut. Da sah ich, dass er weinte. Er kam aus dem Krankenhaus. Meine Mutter war im Garten zusammengebrochen – ein Blutgerinnsel im Gehirn – die Nachbarn hatten sie entdeckt... sie war tot.«
»Oh, Marcus...«
»Aber wisst ihr, das Seltsame daran war, sie war schon den halben Nachmittag im Krankenhaus gewesen. Ich hab das später erfahren. Als der Krankenwagen gekommen ist, war ich erst zwanzig Minuten weg, und mein Vater war eine Viertelstunde später im Krankenhaus. Er blieb danach die ganze Zeit bei ihr. Einmal hat er zu Hause angerufen, hat er mir gesagt, aber ich war nicht da. Er wusste nicht, wo ich war. Hat mir später deswegen die Hölle heißgemacht, als ob ich mich nicht selbst schon genug dafür hasste.« Marcus’ Stimme setzte einen Augenblick aus. »Meine Mutter schwebte kurze Zeit zwischen Leben und Tod, dann ist sie gestorben. Dad hat danach noch eine Stunde an ihrem Bett gesessen und ist dann nach Hause gefahren – mich vorher noch mal anzurufen, ist ihm selbstverständlich nicht eingefallen. Aber egal, ihr habt doch verstanden, worauf ich hinauswill?«
In dem Zimmer herrschte Schweigen. Emily wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Über den Garten und den Zeitpunkt...«
»Ja, Marcus, natürlich hab ich -«
»Ja«, sagte Simon, »hab ich.« Er räusperte sich umständlich.
»›Es wird alles gut werden‹, hat sie zu mir gesagt.«
»Ja.«
Wieder ein Schweigen. Emily lag auf dem Rücken, die Mütze tief ins Gesicht und den Schlafsack bis ans Kinn gezogen. Trotz der drei Paar Socken, die sie anhatte, fror sie an den Füßen. Aber es war so kalt und dunkel, dass sie sich nicht noch einmal aus dem Schlafsack wühlen wollte, um ein weiteres Paar überzuziehen. Sie starrte eine Zeit lang ins Nichts, die Dunkelheit umhüllte sie
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