Die Eisfestung
im Kamin schon fast heruntergebrannt. Aber es verbreitete immer noch eine wohlige Wärme, und der rote Schein der Glut erhellte den Raum. Zufrieden krabbelten sie in ihre Schlafsäcke. Simon wollte das Heizgerät noch nicht anmachen.
»Hab keine Lust, jetzt dran rumzufummeln«, sagte er. »Rührt euch, wenn euch kalt ist.«
»Ich bin froh, dass wir wieder hier sind«, sagte Emily. »Der Turm war’s wirklich wert, aber der Weg hin und zurück war ein bisschen unheimlich. Zu viele große gähnende schwarze Öffnungen.«
»Wäre noch viel schlimmer gewesen, wenn ihr von dem Gespenst gewusst hättet«, sagte Marcus plötzlich.
»Marcus, bitte nicht!«, wehrte Emily ab. »Wenn du jetzt irgendwelche Gruselgeschichten zusammenfantasierst, kann ich nicht einschlafen.«
»Das hab ich nicht erfunden. Es soll in dieser Burg tatsächlich einen Geist geben.«
»Danke, kein Interesse.«
»Ich schon«, sagte Simon. »Darf aber nicht langweilig sein!«
»Ist es nicht. Ziemlich blutige Story. Aber Em will sie ja nicht hören.«
»Ach, Em ...«
»Na, okay – aber gebt nicht mir die Schuld, wenn ihr die ganze Nacht wach bleibt.«
»Super. Schieß los, Marcus.«
»Okay. Man erzählt sich – willst du es wirklich hören, Em?«
»Ja!«
»Also, man erzählt sich, dass einer der Burgherrn – nicht Hugh, ich denke, es war nach seiner Zeit, aber egal, auf alle Fälle einer der Herzöge – sehr verschwendungssüchtig war. Er verprasste seinen ganzen Reichtum, es gab üppige Gelage in der Burg mit viel Wein und schönen Frauen und bald war er tief verschuldet. Er brauchte dringend Geld, und es gab eine Person in der Umgebung, von der er wusste, dass sie ihm das Geld leihen konnte, und das war der Abt des nahe gelegenen Klosters. Der Abt war sehr mächtig, sehr reich und sehr böse. Er war berüchtigt dafür, dass er Geld zu Wucherzinsen verlieh. Wer ihm das Geld nicht zurückzahlen konnte, der wurde fortan seines Lebens nicht mehr froh – er landete im Kerker oder wurde von den Schergen das Abtes halb tot geprügelt. Der gottlose Gottesdiener rühmte sich gerne, er habe bisher noch immer Mittel und Wege gefunden, um seine Schulden einzutreiben.«
»Was ist denn das für ein Abt, der Geld verleiht?«, unterbrach ihn Emily. »Ich dachte immer, die sollten wie Heilige leben?«
»Der nicht. Der war kein Heiliger. Er war reich und böse. Jedenfalls, der Burgherr sieht keinen anderen Ausweg, als sich bei dem Abt das Geld zu leihen. Irgendwie werd ich schon ein Mittel finden, um es ihm zurückzuzahlen, denkt er sich. Der Abt begleicht also die Schulden des Burgherrn und alle sind zufrieden. Doch der Zeitpunkt der Rückzahlung kam immer näher, und der Burgherr zermartete sich sein Gehirn, was er tun sollte, denn natürlich hatte er immer noch kein Geld.
Als der Burgherr seinen Verpflichtungen nicht nachkam, schickte ihm der Abt mehrmals einen Boten, um ihn an die Rückzahlung zu erinnern, aber ohne Erfolg. Schließlich drohte er, er werde den Burgherrn vor Gericht verklagen, wenn er nicht binnen einer Woche seine Schulden begleiche. Der Burgherr antwortete ihm darauf eilends, alles sei geregelt, er habe endlich das Geld, und der Abt möge doch – heimlich – auf die Burg kommen, um es in Empfang zu nehmen.«
»Warum heimlich?«, fragte Emily.
»Weil der Burgherr nicht wollte, dass irgendwer von seinen Geldproblemen erfuhr. Glaub ich jedenfalls. Aber – soll ich jetzt die Geschichte weitererzählen oder nicht?«
»Und wann wird’s endlich blutig?«, meldete sich Simon.
»Kommt gleich. In einer mondlosen tiefschwarzen Nacht erscheint der Abt also allein am Burgtor. Er hat eine Mönchskapuze über das Gesicht gezogen, damit ihn keiner erkennt. Der Burgherr empfängt ihn höchstpersönlich und geleitet ihn zu seinen Privatgemächern. Sie betreten gemeinsam die Räume und der Burgherr schließt hinter sich die schwere Eichentür.«
Marcus hielt inne. Emily und Simon warteten.
»Und?« , fragten sie wie aus einem Mund.
Marcus sprach besonders tief und langsam. »Der Abt ward nie mehr gesehn. Der Burgherr schwor später, er habe dem Abt das Geld ausgehändigt und ihn noch in der Nacht wieder hinausgeleitet – und keiner konnte das Gegenteil beweisen. Doch auffällig war es schon, dass von dem Abt keinerlei Spuren mehr gefunden wurden. Manche Leute glaubten, dass er im Wald von Räubern überfallen und getötet worden war, doch die meisten waren anderer Ansicht. Den Burgherrn focht das nicht an. Er hatte seine Schulden
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