Die Eisfestung
wie ein lebendiges Wesen.
»Marcus«, sagte sie schließlich.
»Ja?«
»Ich muss darüber nachdenken, was deine Mum gesagt hat.«
»Ja.«
»Und... ist alles gut geworden?«
»Nein, verdammt noch mal, natürlich nicht. Schlaf jetzt.«
9
D as bleiche, kalte Tageslicht füllte den Raum bis in den hintersten Winkel. Mit großer Anstrengung öffnete Emily ein Auge. In ihrem Kopf pochte es schmerzhaft. Ihre Nase war kalt und tropfte. Als sie versuchte, einen Arm hochzuheben, um den Tropfen abzuwischen, bemerkte sie, dass sie im Schlaf beide Hände mitsamt Handschuhen in ihre Hose gesteckt hatte, weil es dort etwas wärmer war. Sie zog einen Arm heraus und wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullovers die Nase ab. Wenigstens ein Ärgernis war damit beseitigt. Aber es gab noch viele andere. Von der Nacht auf dem harten Holzfußboden tat ihr der Rücken weh. Ihre Mütze musste ihr irgendwann runtergerutscht sein und sie hatte die ganze Zeit den eisigen Luftzug zwischen Tür und Fenster abgekriegt. Ihr Nacken war ganz steif, sie konnte ihn kaum bewegen. Ihre Lippen waren rissig und völlig ausgetrocknet und brannten, wenn sie mit der Zunge darüberfuhr.
Draußen schlug der Wind an die Fensterscheibe.
Ganz in ihrer Nähe schnarchte jemand.
Sie stöhnte leise auf und zog mit steifen Fingern den Reißverschluss ihres Schlafsacks auf. Dann setzte sie sich schwerfällig auf. Ringsum bot sich ihr ein trauriger Anblick. Das Zimmer, das am Tag zuvor so rein und lichterfüllt und weiß gewesen war, hatte seinen Zauber verloren. Der Fußboden war mit Ascheflocken und verkohlten Holzresten übersät, die irgendwann in der Nacht von einer Windböe aus dem Kamin gefegt worden waren. Aber schlimmer noch war das Durcheinander all der anderen Dinge, die auf dem Boden herumlagen – drei Schlafsäcke, Stiefel, verschiedene Kleidungsstücke, ein aufgeschlagenes Buch. Und am allerschlimmsten war der widerliche Anblick der überall verstreuten Essensreste: aufgerissene Chipstüten, zerbröselter Käse, Mandarinenschalen, eine ausgedrückte Senftube, ein zerfleddertes Stück Truthahn. Schmutzige Messer. Und als ob das nicht schon unerfreulich genug gewesen wäre, gab es da auch noch zwei verstrubbelte Haarschöpfe, die aus ihren Schlafsäcken hervorragten. Marcus schlief mit geöffnetem Mund. Simons Mund war nicht zu sehen, aber aus ihm musste das Schnarchen kommen.
Emily rieb sich die Augen und blickte auf die Uhr. Zwanzig nach neun. Sie hatte das Gefühl, als sei ihr Kopf in Watte gepackt, das untrügliche Zeichen, dass bei ihr eine schlimme Erkältung im Anmarsch war. Sie fühlte sich hundeelend und war außerdem völlig übernächtigt, weil sie mindestens noch eine Stunde wach gelegen hatte, nachdem die beiden Jungs schon eingeschlafen waren. Daran war die letzte Geschichte von Marcus schuld gewesen: Wie Hornissen waren seine Worte in ihrem Kopf endlos hin und her geschwirrt, immer neue Gespenster tauchten aus der Dunkelheit auf.
Irgendetwas ließ ihr keine Ruhe. Es hatte mit Marcus zu tun... es war nicht die Geschichte, die er erzählt hatte, obwohl sie davon immer noch sehr aufgewühlt war. Sie wusste nicht, was es war.
Mit steifen Knochen stand sie mühsam auf und begann, noch ganz benommen vom Schlaf, zwischen ihren verstreuten Besitztümern nach einem zusätzlichen Paar Socken zu suchen. Das würde ihre Zehen vielleicht etwas aufwärmen. Sie fand die Socken schnell, aber trotzdem trat sie mindestens einmal auf einen schmierigen Käserest. Der Käse klebte jetzt an ihren Socken. Danach stieß sie mit ihrer großen Zehe gegen eine Pfirsichdose, die unter einer leeren Plastiktüte versteckt war. Sie fluchte und hüpfte auf einem Bein herum, ihren Fuß fest umklammernd.
Marcus rührte sich. Er öffnete ein Auge, doch ohne viel zu sehen.
»Zeit zum Aufstehen«, sagte sie.
Als sie sich hinsetzte, um über ihre Käsesocken das frische Paar zu ziehen, fiel ihr etwas ins Auge, das aus Marcus’ Rucksack herausragte. Ein Wecker.
Da erinnerte sie sich plötzlich wieder: Marcus’ Vater. Der Zeitpunkt, an dem er unbedingt zu Hause sein musste.
»Marcus«, sagte sie laut. »Wach auf! Wir haben verschlafen.«
»Mmmmmh?« Seine Augen blieben hartnäckig geschlossen.
»Wir sind spät dran. Du bist spät dran.«
Seine Augen öffneten sich einen Spalt. »Wie viel Uhr ist es denn?«
»Schon neun vorbei.«
»Was? So’ne Scheiße!« Mit einem wilden Strampeln kämpfte sich Marcus aus seinem Schlafsack heraus. Im nächsten Augenblick
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