Die Eisfestung
wir haben noch zwei andere.«
»Ja, aber sie gehört meinem Vater. Und wenn er sie braucht?«
»Du kannst sie bestimmt reparieren. Aber lass uns jetzt weiter.«
»Okay, dann gib mir deine. Ich kenne den Weg.« Marcus nahm Emilys Taschenlampe und durchquerte den Raum, an den Säulen vorbei. Er ließ den Lichtstrahl den Boden entlanggleiten, bis er auf zwei runde schwarze Löcher in den Steinplatten traf. »Die Gusslöcher«, sagte er. Dann ging er weiter.
Sie folgten ihm in einen langen schmalen Gang. Die Taschenlampe beleuchtete die Mauern auf beiden Seiten, die grobkörnige Oberfläche ihrer Steine. Emily versuchte, sich vorzustellen, wie dieser Gang wohl ausgesehen hatte, als die Burg voller Leben war, mit brennenden Fackeln, angefüllt mit Rauch und goldenem Licht.
Immer noch war über ihnen statt einem Gewölbe der sternenklare Nachthimmel zu sehen. »Pass auf«, rief Simon Marcus zu. »Du richtest das Licht geradewegs in den Himmel. Das könnte jemand bemerken. Kannst du es nicht ausmachen?«
»Nein.« Aber Marcus hielt jetzt seine Hand vor die Lampe, sodass von dem Lichtstrahl nur noch ein Halbkreis auf dem Boden übrig blieb, der den Füßen ihren Weg wies.
Am Ende des Gangs befand sich ein großer Raum, der noch eine vollständige Decke zu haben schien, doch so genau konnte Emily das in dem Licht nicht erkennen. Rechts vorne in der Ecke musste der Durchgang zur Wendeltreppe sein und geradeaus waren mehrere Schießscharten in der Wand.
»Seht ihr hier?« Marcus strahlte eine dicke Holztür rechts neben ihnen an. »Da geht’s raus. Eine breite Treppe zum Eingang runter. Aber wir müssen noch weiter rauf.«
Er hielt kurz inne. »Wenn wir auf der Wendeltreppe sind, mach ich das Licht besser aus«, sagte er. »Da sind viele Fenster, die Gefahr ist zu groß, dass jemand vom Dorf uns sieht.«
Als sie die ersten Stufen der Wendeltreppe erreicht hatten, knipste Marcus die Taschenlampe aus. Um sie herum war es pechschwarz. Ihre Arme hatten sie ausgestreckt, sodass die Hände links die Mauer und rechts den Mittelpfeiler berührten. Sie brauchten einen Augenblick, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann stiegen sie die Treppe hoch.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Die Finsternis nahm kein Ende. Emily hörte nur das Geräusch ihrer eigenen Schritte und spürte die Kälte des glatten Steins durch ihre Handschuhe. Die eiskalte Luft der Winternacht brannte auf ihrem Gesicht. Ein paarmal hörte sie über sich Marcus husten. Weil sie nichts sehen konnte, begann ihre Vorstellungskraft umso lebhafter Dinge zu erfinden. Sie hörte hinter sich das Schlurfen eines Unbekannten, sie spürte, wie sein Atem ihr den Nacken kitzelte -
Da hielten die Schritte über ihr plötzlich an und im nächsten Augenblick rumpelte sie gegen Simons reglosen Rücken.
»Was ist los?«, flüsterte sie.
»Links war auf einmal keine Wand mehr. Das hat uns etwas erschreckt. Aber alles in Ordnung. Wir sind jetzt ein Stockwerk höher. Wir müssen einfach weitergehen.«
Das Geräusch der Schritte setzte wieder ein. Sie tasteten sich weiter Stufe für Stufe die Wendeltreppe hoch. Emily taten die Augen weh, so angestrengt starrte sie in die Dunkelheit. Einmal tauchte links ein warmer gelber Lichtfleck auf. Sie wusste, dass es ein fernab gelegener Bauernhof sein musste und dass sie ihn durch ein Fenster im Treppenturm sah, aber es war ihr nicht möglich, das Licht ruhig anzuschauen – es glimmte und glänzte und tanzte vor ihrem Auge wie ein Irrlicht im Moor, bis sich ihr im Kopf alles drehte. Dann war sie an dem Fenster vorbei und der Spuk hörte auf.
»Ich bin an der Tür.« Die Stimme von Marcus flüsterte ins Leere. »Wartet eine Sekunde.«
Eine Pause folgte.
»Da ist ein Riegel vorgeschoben. Ich krieg ihn nicht auf...« Ein gemurmelter Fluch senkte sich über das Treppenhaus. »Mach schon, du verfluchter...« Ein plötzliches heftiges Geräusch ertönte, von Metall und Holz gleichzeitig. Emily spürte einen eisigen Luftzug im Gesicht. Sie hörte, dass Simon sich wieder in Bewegung setzte. Sie machte ebenfalls ein paar Schritte und dann stand sie im Freien, auf den Zinnen des Turms.
Eine blauschwarze Kuppel, verziert mit klar leuchtenden Sternen, wölbte sich über ihren Köpfen. Ihre unermessliche Größe verschlug Emily den Atem – dies und die stechende Kälte der Winternacht, von der ihre Haut wie von tausend Nadelstichen getroffen wurde. Der Frost hier draußen war klarer und schärfer als die dumpfe, kriechende Kälte in der
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