Die Eisfestung
noch fallen.«
Mit langsamen Schritten näherte er sich dem Gang, der zum Säulenzimmer führte, musste jedoch feststellen, dass er zu schmal für das Brett war. Ächzend drehte er sich um 90 Grad und begann, im Krebsgang seine Last durch den Flur zu transportieren. Mit steinerner Miene sah Emily ihm nach. Kurze Zeit später hörte sie einen großen Krach und einen Aufschrei. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Nach einer kleinen Pause tauchte Simon wieder auf, das Brett hatte er immer noch bei sich und er humpelte stark.
»Hab’s fast bis zu den Gusslöchern geschafft, bevor mir die Hand abgerutscht ist«, sagte er und rieb sich den linken Knöchel. »Autsch.« Er schaute zu ihr hin. »Ich hab gesagt Autsch . Es tut ziemlich weh.«
»Wie? Ihr wollt die Steine tatsächlich durch die Gusslöcher schmeißen, falls die Burg angegriffen wird?«, fragte Emily. »Das willst du machen, ja? Du wirst da Felsbrocken runterwerfen? Simon, du bist ein solcher -«
»Hat hier jemand was fallen lassen?« Eine fröhliche Stimme ertönte von der Wendeltreppe. Marcus schleppte ebenfalls ein kleines Arsenal Steine herbei, er hatte sie in seinen Rucksack gesteckt. »Das dürfte reichen, oder?« Er grinste und ließ den Rucksack auf den Boden fallen. »Uff! Ziemlich anstrengend! Ich trag sie später noch rüber. Lass uns den Balken ausprobieren, Simon.«
»Wartet mal einen Augenblick.« Emily hatte das Gefühl, in Treibsand zu versinken. Sie versuchte, wieder etwas Ordnung in die Welt zu bringen. »Jungs, ich muss jetzt gehen. Ich hab versprochen, zum Tee zu Hause zu sein, und es ist jetzt schon nach vier. Meine Mutter will, dass ich ihr helfe.«
Die beiden schauten sie verständnislos an. Selbst für ihre eigenen Ohren klang das merkwürdig hohl – nicht nur unwahr, sondern auch schrill und falsch. »Und es wird gleich dunkel«, fügte sie hinzu. »Bald können wir nicht mehr runterklettern. Simon, das weißt du doch auch.«
»Ja, ja.«
»Ohne dich schaff ich das mit dem Seil nicht. Hey, Marcus, wir kommen morgen wieder her, um Hallo zu sagen. Nachsehen, wie’s dir geht. Das ist doch okay für dich, oder?«
»Ich weiß nicht, Em.« Marcus wirkte enttäuscht. »Hängt ganz davon ab.«
»Wovon denn?«
»Wie die Lage ist. Wenn die Luft rein ist, dann lass ich euch rauf. Sonst werf ich das Seil nicht runter, in Ordnung?«
Emily hörte sich freudlos lachen. »Aber Marcus, es wird nichts passieren.«
»Heute Nacht wird nichts passieren«, verbesserte er sie. »Im Dunkeln werden sie nicht angreifen, außer sie sind sehr töricht. Aber morgen... da bin ich mir nicht so sicher. Ich muss auf alles vorbereitet sein.«
»Okay, alles prima.« Sie wollte nur noch weg. »Dann bis morgen.«
»Halt, das müssen wir absprechen. Ich kann nicht den ganzen Tag dort auf euch warten. Ich werde die meiste Zeit hier am Fenster sitzen und auf das Tor blicken. Von dort aus wird der Angriff kommen.«
»Dann lass uns eine Zeit ausmachen«, sagte Emily ungeduldig. Sie spürte, wie ihr der Boden wieder unter den Füßen wegzurutschen begann.
»Vormittags«, sagte Marcus. Er dachte einen Augenblick nach. »Wir müssen unsere Uhren synchronisieren. Auf meiner ist es jetzt 16.06 Uhr. Sagen wir morgen um zehn. Da werd ich mit dem Seil auf euch warten. Seid nicht zu spät dran, sonst kommt ihr nicht rein.«
»Okay, dann um zehn.« Simon schien ganz einverstanden zu sein. »Du probierst das mit dem Balken aus, ja?«
»Das mach ich jetzt gleich, keine Sorge. Aber eins noch. Könnt ihr mir ein paar Flaschen Wasser mitbringen? Ich hab nicht genug dabei und der Brunnen ist natürlich ausgetrocknet.«
Emily befand sich bereits unter dem ersten Bogen des Säulengangs, der in den Mauerumgang mündete. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie musste jetzt schnell von hier weg, aus der Burg raus, allein sein. Die Einsamkeit und der frische Wind auf den Feldern würden ihr vielleicht helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sie warf Marcus einen letzten, langen, vernichtenden Blick zu, dann ging sie davon. Simon folgte ihr.
»Vergesst das Wasser nicht!«, rief Marcus ihnen nach. »Und danke, dass ihr kommt – es ist großartig, Verstärkung zu kriegen!«
BELAGERUNG
13
M itten in der Nacht schlug das Wetter erneut um. Emily wurde um halb vier Uhr morgens von einer heftigen Windböe geweckt, die an ihrem Fenster rüttelte. Irgendwo im Haus knallte eine Tür zu. Der Wind sauste und brauste über das Dach. Schlaftrunken beugte Emily sich zu ihrem
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