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Die Eisfestung

Titel: Die Eisfestung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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Fenster und hob den schweren Vorhang hoch. Sogar durch die doppelten Glasscheiben konnte sie spüren, wie der kalte Wind ihre Haut kitzelte. Der trübe Lichtschein der Straßenlaterne gegenüber fiel auf einen unablässigen, wirbelnden Tumult von Schneeflocken. Sie wurden vom Wind gegen das Fenster geweht und sammelten sich auf dem Fensterbrett. Die Gehsteigplatten auf der anderen Straßenseite, die der Nachbar so sorgfältig geräumt hatte, waren erneut unter einer dicken weißen Schneedecke verschwunden. Eine weitere Windböe rüttelte am Fenster. Emily ließ den Vorhang herunterfallen und sank wieder in ihr Bett zurück.
    »Marcus, du bist ein Idiot «, murmelte sie.
     
    Am nächsten Morgen dauerte der Schneesturm immer noch an. Emily zog mehrere Schichten Kleidung über und brachte ihre Stiefel heimlich zur Hintertür. Bei diesem Wetter würden ihre Eltern ihr bestimmt nicht erlauben, aus dem Haus zu gehen, also besser überhaupt nicht fragen. Sie rutschte auf dem Stuhl hin und her, immer wieder ängstlich auf die Uhr schauend, bis ihre Eltern endlich mit dem Frühstück fertig waren. Sie würden jetzt ihren üblichen Beschäftigungen nachgehen und nicht weiter auf sie achten. Die Luft war rein. Emily schnappte sich ihren Anorak, schlüpfte in die Stiefel und schlich hinaus in den Schnee.
    Am Waldrand schneite es in so dicken Flocken, dass Emily fast an Simon vorbeigegangen wäre. Er stand reglos an einen Baum gelehnt da und schaute in das wirbelnde weiße Treiben. Sie wäre fast gestolpert, weil sie sich in unsichtbarem Gestrüpp verfangen hatte, da drehte er sich plötzlich zu ihr um.
    »Hast du das Wasser?«
    »Oh, Mist, hab ich vergessen. Aber Marcus braucht es jetzt bestimmt nicht mehr.«
    »Ich hab zwei Flaschen dabei. Hast du auch die Polizei gesehen?«
    »Was?« Das Gefühl, in Treibsand zu versinken, war wieder da.
    »Da ist ein Streifenwagen im Dorf unterwegs. Ich bin aus dem Laden rausgekommen und fast mit zwei Bullen zusammengerumpelt.«
    »Was wollten sie denn?«
    »Hey, ich hab sie nicht gefragt. Benutz mal dein Hirn! Vielleicht sind sie Marcus auf der Spur. Sind von seinem Vater beauftragt worden. Ich hab dir doch gesagt, dass man denen nicht trauen kann.«
    »Simon, wir müssen Marcus unbedingt da rausholen. Wenn sie ihn in der Burg finden, dann sind wir alle drei geliefert.«
    »Ist aber im Augenblick der sicherste Ort. Im Dorf ist es jetzt zu heiß für ihn.«
    »Simon, hier läuft was grundsätzlich schief!«
    »Lass uns das drinnen diskutieren, wo es wärmer ist. Schon fünf vor zehn.«
    Er machte sich auf den Weg, den leichten Abhang hinunter, auf den Heckenzaun zu, der sich als undeutliche Wand vor ihnen abzeichnete. Emily folgte ihm, bei jedem Schritt ihre Stiefel weit aus dem Schnee herausziehend, um nicht in irgendwelchem Dornengestrüpp hängen zu bleiben. Das Schneegestöber war jetzt so dicht, dass sie dauernd blinzeln musste. Mehr als drei bis vier Meter weit konnte man nicht sehen. Die Lücke in der Hecke zu finden war nicht leicht – nur hie und da ragte ein Stück Stacheldraht aus dem weichen Schnee hervor. Dann ging es über die freie Fläche, durch Schneeverwehungen, die noch tiefer als vor ein paar Tagen waren, zur Brücke, die unter den Schneemassen fast verschwunden war. Ihre breiten Bohlen waren mit dicken Schneehauben bedeckt, fast konnte man in dem ganzen Schnee nicht mehr sehen, wo sie endeten. Emily stellte sich vor, wie sie nach rechts oder links vom Weg abkam, durch das Geländer rutschte und tief in das Weiß hinunterfiel. Der Schnee würde jedes Geräusch ersticken, ihr zerschmetterter Körper wäre nichts als ein Farbfleck, der bald unter den herabfallenden Flocken begraben sein würde... Sie merkte, dass sie getrödelt hatte. Simons schattenhafter Umriss war schon weit voraus.
    Sie beschleunigte ihren Schritt, kam am Torhaus vorbei, dann tauchte die Burg als mächtige graue, verschwommene Masse vor ihr auf und beherrschte das gesamte Gesichtsfeld. Als sie näher kam, konnte sie die Türme an beiden Ecken, die Zinnen, Fenster und schmalen Schießscharten unterscheiden, die sich wie verwischte Pinselstriche abhoben. Der wahre Zustand der Ruine – der im oberen Stockwerk zerstörte Turm auf der anderen Seite, die Risse und Spalten in den Mauern, das zerbröckelnde Mauerwerk – war nicht zu erkennen. Die Burg sah machtvoll und unversehrt aus. Eine uneinnehmbare Eisfestung.
    Sie stapften weiter, an der Eingangsseite entlang, um die Ecke herum, bemühten sich, so gut

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