Die Eisfestung
Sprache als alle Worte.
Nicht dass sie ihm nicht geglaubt hätte, was er erzählte, aber...
Emily seufzte. Das Problem bei Marcus war, dass er viel zu viel quasselte. Man wurde nie ganz schlau aus ihm. Es war schwer, bei ihm immer mitzukriegen, was eigentlich los war. Sie hatte kein klares Bild von ihm, und sie wurde den Verdacht nicht los, dass er manchmal selbst von seinen Erzählungen zu sehr mitgerissen wurde. Aber das mit seinem Gesicht war keine Einbildung – und sein Vater verfolgte ihn. Marcus steckte wirklich in Schwierigkeiten, das war eindeutig.
Also was tun? Da wurde es noch viel komplizierter, denn alle ihre Gedanken und Gefühle wurden überschattet von einem dumpfen Schuldgefühl, das sich wie eine Nebelwolke über alles legte. Das spürte sie jetzt ganz deutlich. Es war ihre Schuld, dass es so gekommen war, sie hatte die Idee gehabt, in der Burg zu übernachten, und deshalb war Marcus die Nacht nicht zu Hause gewesen. Es war ihre Schuld, dass er am nächsten Morgen von seinem Vater verprügelt worden war. Sie konnte nicht wirklich etwas dafür, dass er zu spät aufgewacht war, aber sie fühlte sich auch dafür irgendwie verantwortlich. Wenn sie Marcus nicht dazu gedrängt hätte, die Nacht auf der Burg zu verbringen, wer weiß, vielleicht wäre er dann auch nicht auf die Idee gekommen, sie als Zufluchtsort zu wählen, jetzt, wo er in Bedrängnis war.
Oder doch?
Das war schwer zu entscheiden. Manchmal hatte man bei Marcus den Eindruck, dass es ihn überhaupt nicht kümmerte, wie die Dinge wirklich waren, sondern dass er in einer Fantasiewelt lebte. Dieser ganze Unsinn mit der Verteidigung der Burg. Simon war davon viel zu leicht zu beeindrucken. Marcus brauchte nur über Werkzeuge, Fallen für den Feind und Verteidigungsmaßnahmen zu reden, und schon bekam Simon leuchtende Augen.
Also, was sollten sie machen? Zur Polizei zu gehen, schien immer noch die einzige vernünftige Idee, die ihnen eingefallen war. Aber Marcus hatte das sofort abgelehnt. Daran war Simon schuld – wenn er nicht so über die Polizei geschimpft hätte, dann hätte sie Marcus vielleicht noch überzeugen können. Jetzt würde keiner von beiden diesem Plan mehr zustimmen, und allein zur Polizei gehen, das konnte sie auch nicht.
Wirklich nicht?
Emily öffnete die Augen und schaute aus dem Fenster. Ein fernes, gedämpftes Klopfen klang aus dem Innenhof herauf. Sie zuckte zusammen. Am besten nicht darauf achten.
Die Polizei... warum nicht, sie könnte sich allein an die Polizei wenden, dort anrufen... heute Abend noch, kein Problem... vielleicht könnte sie es anonym machen, gar nicht ihren Namen nennen, einfach auflegen, sobald sie das mit der Burg erzählt hatte... Nein, Marcus würde bestimmt auch sie erwähnen, das war keine gute Idee.
Oder sie könnte sagen, wie alles tatsächlich war, keine Lügen, kein langes Drumherumreden, die Polizei würde dann direkt auf den Kern der Sache zusteuern (das Problem mit Marcus’ Vater), und alles andere – unbefugtes Betreten des Burggeländes, Beschädigung eines historischen Bauwerks und so weiter – würde keine Rolle mehr spielen.
Emily versuchte, sich einzureden, dass es so wäre, aber sie hatte ein ungutes Gefühl dabei.
Außerdem wäre sie für Marcus und Simon bestimmt die schlimmste Verräterin, wenn sie zur Polizei ging. Sie würden nie mehr mit ihr reden.
Sie seufzte leise auf. Da hatte sie nun angestrengt nachgedacht und war wieder so schlau wie am Anfang. Am gleichen Punkt angelangt. Nämlich im Augenblick gar nichts zu machen. Wenn alles gut lief, würde Marcus nach ein, zwei Tagen so genervt und so schlimm erkältet sein, dass er sich das mit der Polizei bestimmt noch mal überlegen würde. Dann könnten sie die Burg ganz aus der Geschichte rauslassen.
Emily war noch nicht lange zu dieser trotzigen Erkenntnis gelangt, da sah sie Simon die breite Wendeltreppe hochsteigen. Er schnaufte und war ganz rot im Gesicht. Er trug ein langes Holzbrett vor sich her, auf dem eine ganze Pyramide von kleinen Felsbrocken und Steinen aufgeschichtet war. Emilys Stimmung sank in den Keller.
»Was soll das denn werden?«, fragte sie eisig.
Begeistert stieß Simon hervor: »Das ist der Balken, mit dem wir die Tür da unten verriegeln wollen. Wir wollen es gleich mal ausprobieren. Stammt von der Bretterbude, wie Marcus gesagt hat. Er hat echt super Werkzeug dabei, schneidet das Holz wie Weichkäse.«
»Und die Steine?«
»Munition. Ich muss jetzt weiter, sonst lass ich sie
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