Die Eisläuferin
die eine Wohltat waren für die Augen und die Seele. Und man konnte einfach nur so dasitzen und sie an sich vorüberziehen lassen wie ein riesiges Bild, auch wenn man mit zweihundert Stundenkilometern durch sie hindurchbrauste.
Sie sah alles schon genau vor sich: den unendlichen Baikalsee, den tiefsten und größten See der Welt, das blaue Auge Sibiriens, den alle Flüsse dieser Erde nicht in einem Jahr füllen könnten – für sie also der perfekte Ort, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Und dann die bujartische Kultur, die breiten Sandstrände des Amur mit Blick auf China, alles ohne Kamerateams, aus einem Abteil der Kategorie »Nostalgie-Komfort« heraus, mit Ohrensessel und Gardinen vor der Landschaft. Kurzum: eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn – in voller Länge, bis nach Wladiwostok. Eine Reise, bei der sie nicht notwendigerweise aussteigen musste, keine Begrüßungskomitees und Musikgruppen in Landestracht mit nach vorne geschobenen Kindern, keine verdammten kleinen weißen Punkte auf dem Boden, auf denen sie zu stehen hatte, keine Verhandlungen, außer denen über die Teesorte am Morgen.
»Hallo? Chefin? Na, Sie scheinen ja gerade ganz weit weg zu sein.«
|11| »Ja, ein Albtraum für Sie, Herr Bodega, nicht wahr? Tja, der Geist ist frei. Das ist meine einzige Chance, diesen Job halbwegs unbeschadet zu überstehen, glauben Sie mir.« Sie neigte den Kopf und grinste.
Bald würde ihr Mann mit dem Packen fertig sein. Sie hatte es ihm immer gern überlassen, er war darin ganz einfach schneller. Er hatte dieses Mal auch die Exekutive in der Reisevorbereitung innegehabt, da sich sein Name in den Buchungsunterlagen etwas unverfänglicher ausmachte als der ihrige – zumindest hatte sie das angenommen. Und als hätte er ihre Gedanken lesen können, ging das Licht im Schlafzimmer aus.
Das war das Zeichen. Sie schaute auf die Uhr und sagte: »Oh, ich muss jetzt los. Der Rotwein, Herr Bodega, Sie werden uns morgen vor zehn Uhr nicht zu Gesicht bekommen, befürchte ich. Ich denke, das kommt Ihnen auch entgegen?«
»Selbstverständlich. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Herr Bodega erhob sich ein wenig unkontrolliert und schwankend, was sie mit Genugtuung zur Kenntnis nahm.
Die Fähre würde den Hafen von San Sebastian um 7.25 Uhr nach Teneriffa verlassen, und der Charterflug nach Barcelona dürfte sich zeitlich so ziemlich mit den ersten morgendlichen Liegestützen Herrn Bodegas decken. Und dann würde er sein Handy anstellen und ihre erste SMS lesen.
Das Taxi war pünktlich. »El puerto de San Sebastian, por favor.« Ihr Mann hatte das Verb unterschlagen, was ihm nichts auszumachen schien, und nahm neben ihr Platz. Sie saß hinten rechts, wie immer. Es war ein herrliches Gefühl, weit und breit keine Menschenseele hinter sich zu wissen, außer der von Herrn Bodega. Sie kam sich vor wie ein junges Mädchen, das von zu Hause abhaut. Dabei hatte sie doch Urlaub, war entschuldigt, durfte schwer erreichbar |12| sein. Und doch beschlich sie ein leises Unbehagen, dass das Volk so etwas wie ihr jetziges Vorhaben möglicherweise nicht guthieß.
Nein, in ihrem Fall hatte Urlaub in landläufigem Sinne schon länger nicht mehr nur mit Erholung zu tun. Urlaub zu machen hieß, so zu sein wie alle, Erwartungen zu erfüllen, den Hauch einer Identifikation aufkommen zu lassen.
Sie fand, dass das Volk es etwas einfacher mit ihr hatte als sie mit dem Volk. Jeder konnte sich ihrer bedienen, es gab auch kein Entkommen, ein Suchauftrag im Internet, und es würde sechsmillionensechshundertfünfzigtausend sachdienliche Hinweise auf sie geben. Ein Leben wie mit Peilsender. Hatte überhaupt irgendjemand auch nur eine Ahnung davon, wie unfrei einen das machte? War da an Urlaub zu denken? Nein. Nichts war normal. Da halfen auch vierzehn Tage La Gomera nichts. Alles Gründe also, um sich wenigstens einmal ein bisschen Freiheit zu genehmigen, nicht zu lang, nicht zu viel, angemessen eben. Und wo war das besser möglich als in den Weiten der Taiga? Ja, mit einigem Humor konnte man sogar den Verdacht hegen, dass viele Menschen im Lande sie gerne genau dorthin wünschten.
Es lag noch ein Nebelschleier über den Wiesen, und wie auch immer die Dinge lagen, es war ihr schon ein wenig nach Aufbruch zumute.
Ihr Mann fingerte an seinem Rucksack auf dem Schoß. »Ich glaub’s erst, wenn wir in Moskau sind. Meinst du, dass die Pressefotos von der Landung auf der Insel ausreichen, damit sie nicht dahinterkommen?«
»Ich
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